FeuilletonFrankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.2006, Nr. 292, S. 44
Das Werk verlangt nach Reinheit
Warum der "Block Beuys" in Darmstadt weiße Wände braucht / Von Heiner Bastian
Beuys in Darmstadt vor weißen Wänden - ein Schrecken oder ein Weg in die Zukunft? Heiner Bastian, 1988 Kurator der ersten Retrospektive nach dem Tod des Künstlers und Berater der Sammlung Marx, sieht in der Entfernung der Wandbespannung einen Akt der Befreiung.
In der fortschreitenden Zeit verschwistern sich Gewohnheit und Gewöhnlichkeit. Jahrzehnte vergehen, und schon gelingt es den Verhältnissen, uns eine Art Wahrheit vorzutäuschen: die elende, sich fortschreibende Macht des scheinbar Normativen über das nie Gesehene. Das Hessische Landesmuseum in Darmstadt ist der eher zufällige und glückliche Ort, der skulpturale Werke von Joseph Beuys in einem einzigartigen, authentischen Ensemble vereinigt. Kein anderer Ort kann mithalten: Berlin nicht, Kassel, München, London, Basel, Mönchengladbach nicht, auch nicht Düsseldorf oder die Dia Art Foundation in Beacon am Hudson River. Wer das skulpturale Werk in seiner dichtesten Kohärenz und seinem Formenreichtum studieren will, muß es in Darmstadt tun.
In Darmstadt lädt die Direktorin nun zu einem Symposion ein, das die Auswirkungen einer gravierenden Veränderung der Räume untersuchen soll, und verkündet den Teilnehmern vorab bereits das Ergebnis ihrer Überlegungen. Eine eigenartige Zusammenkunft, die man nicht kommentieren mag. Nach mehr als drei Jahrzehnten sollen die dunkel verschlissene, heruntergekommene, staubdurchsetzte Wandbespannung aus grober Jute und der elende Teppichboden verschwinden. Die einstige, tatsächliche Kubatur der Räume soll in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt, die dann sichtbaren Wände sollen weiß werden, ein Boden aus Stein soll die Staubpfade ersetzen (F.A.Z. vom 2. und 7. Dezember).
Daß jetzt die selbsternannten Gralshüter und zahlreichen Beuys-Jünger die Räume in ihrer Beschaffenheit für unantastbar halten, ist verständlich. Sie haben Beuys schon immer nur zum Anthroposophen erklären wollen oder sein Charisma mit messianischen, biographisch verklärten Tugenden verwechselt. Das magistrale skulpturale Werk, das die Klarheit und die Reinheit eines Lessingschen Glasperlenspiels hat, haben sie sowieso nie wirklich wahrgenommen. Ihre Einwände sind Geisterbeschwörungen. Die Bedenken renommierter Kunsthistoriker und Kunstkritiker, die das Werk des Künstlers seit Jahren begleiten, sind hingegen ernst zu nehmen. Ihre Kritik an der geplanten Veränderung bezieht sich auf eine zu erwartende neue Raumwirkung. Sie sehen zwischen den Werken und der farbigen Wandbespannung ein kohärentes, komplementäres Zusammenspiel. Sie befürchten gar, daß der Charakter von weißen Wänden auch den Charakter und die Wahrnehmung der Werke verändern wird. Daß man die geplante Neuerung in Darmstadt aber auch anders sehen kann und muß, soll hier versucht werden.
Joseph Beuys hat sich einst nicht für Darmstadt entschieden. Die Räume hat er sich nicht ausgesucht, den Teppichboden nicht gewählt und die Wandbespannung nicht entworfen, jedoch akzeptiert. Mehr nicht. Zu Darmstadt und den vorhandenen Bedingungen gab es für den Künstler 1970 keine Alternative. Joseph Beuys hat die Werke damals selbst installiert. Dem Besucher wird jedoch bis heute fälschlicherweise suggeriert, daß die ungewöhnliche, auffallende Wandbespannung ja eigentlich nur von Beuys so gewollt, ja intendiert sein kann. Wenn man also jetzt endlich, nach 36 Jahren, die verschlissene Wandbespannung und den verschlissenen Teppichboden entfernt, dann wäre dies auch ein Akt der Befreiung.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Kohärenz der Installation, die vom Künstler intendierte Dialogfähigkeit oder die referentielle Resonanz, die die Werke in Beziehung setzen, gefährdet wären. Aufgehoben wäre jedoch endlich eine nicht vom Künstler zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeiten intendierte Interdependenz der Wahrnehmung, die das grandiose Werk unaufhörlich mit einer Wandbespannung in Beziehung setzen will. Der Begriff der "Installation von letzter Hand" (Dieter Koepplin) geistert schon lange durch die Räume und kann doch nur das Festhalten an einem geradezu anachronistisch anmutenden Fetischismus meinen: Denn niemand will das Werk verändern. Niemand wird etwas zerstören.
Es wäre verheerend anzunehmen, daß die Wirkung der Werke von Beuys von der Ausstrahlung und Wirkung einer Wandbespannung mitbestimmt werden sollen oder sogar davon abhängig seien. Das Werk von Joseph Beuys verlangt geradezu nach der Reinheit von Räumen, die es bisher in Darmstadt nicht gegeben hat. Nicht einmal die Wände anzurühren hieße, den Räumen einen musealen Mausoleumsschein, einen Totenschein auszustellen. Eine ewige, mimetische Symbiose zwischen Werk und Wänden zu unterstellen bedeutete zudem, das Werk an das Weiterbestehen von Jutewand und Teppichböden (die Beuys haßte!) zu fesseln. Seine Skulpturen bedürfen einer solchen wechselseitigen Emanation nicht; sie wehren sich vielmehr in ihrer fundamentalen Spiritualität gegen derartige absurde Affinitäten.
Jedem dieser Werke ist eine ästhetische Evidenz inhärent, die wir in der Konstellation der Werke zueinander ähnlich bündig wiederfinden. Dies ist das unantastbare Faktum. Seit wann soll zur Bedeutung des Werkes das Bedeutete seiner Umgebung gehören? Will wirklich jemand die Wahrnehmung eines Kunstwerkes mit dem Hof des Mitwahrgenommenen gleichsetzen? Die Wahrnehmung des Kunstwerks muß von der Peripherie und dem Feld des Werkes zu trennen sein. Befreit das Werk endlich aus seinem provinziellen Schicksal der verquasten Sinngebung einer klaustrophobischen Wandbespannung, deren Aura nur noch Speicher oder Lagerraum vermittelt!
Ich hätte nie für möglich gehalten, daß wir zwanzig Jahre nach dem Tod des Künstlers in Diskussionen geraten, in denen ästhetische Fragen abermals zu Glaubensbekenntnissen, Ideologien oder Beschwörungsformeln werden. Man hört geradezu wieder das einstige mythische Raunen. Man möge den Künstler endgültig davor bewahren. Wenn man die aufgetretenen Fragen pragmatisch beantwortet, kann man nur zu dem Schluß kommen, daß die seit Jahren heruntergekommenen Räume inzwischen auf die Werke "abfärben". Hat der Künstler jemals in seinen zahlreichen Installationen nach Bespannungen, Farben, Wandgestaltungen irgendeiner Art verlangt? Nicht ein einziges Mal!
Zu den Plänen in Darmstadt gibt es ein Lehrstück. Im Herbst 1979 war zum ersten Mal ein substantieller Teil der Darmstädter Werke in einem einzigen Raum ähnlicher Kubatur zusammen ausgestellt: im New Yorker Guggenheim Museum anläßlich der Retrospektive des Künstlers. Es war eine grandiose Inszenierung in einem weißen Raum. Zum ersten Mal waren die Werke eines Darmstädter Raums in ihren vielfältigen Physiognomien und Farben vor weißen Wänden zu sehen und richtig zu lesen. Für mich war dieser Raum eine Offenbarung. Die diffusen blinden Spiegel einer Wandbespannung waren verschwunden. Wer diese prototypische Installation gesehen hat, wird sie nie wieder vergessen. Eines Tages während der Installationsarbeiten in New York fragte ich Joseph Beuys, ob er sich angesichts dieses Raumes Darmstadt nicht auch in weißen Räumen und mit einem Steinfußboden vorstellen könne. Die Antwort: "Ja. Aber keine Terrazzoböden mit Messingfassungen wie hier und kein Dispersionsweiß!"
Während der Besuche in Darmstadt empfinde ich seit Jahren nur noch Trauer. Die "Weltsensation", die sie an anderen Orten wäre, verbreitet eine verheerende, bedrückende Stimmung. Die verschlissene Wandbespannung ist zur reinen Anästhesie der Werke mutiert. Befreit das Werk aus seiner Enge der monotheistischen Rechthaberei! Befreit es von einem Vehikel, das dem Blick auf das reine Werk unnütz ist! Die Spiritualität der Werke, ihre Zivilisationskritik, das Aufzeigen der Mißhelligkeiten der Conditio humana, die epische Struktur, ihre fortwährend schwierige Schönheit, die sich der Fortschreibung von Ästhetik entziehen, bedürfen einer adäquaten Freiheit. Aus der Zusammenarbeit mit Joseph Beuys, die in vielen Gesprächen gewonnenen Erkenntnisse lassen mir keinen anderen Schluß zu. "Mein Begriff von Plastik bezog sich immer auf das Leben . . .", so Joseph Beuys. In Darmstadt wird dieses Leben immer schwächer - Vergangenheit.
Bildunterschrift:
Vorbild für Darmstadt? Teile des Beuys-Blocks 1979 in einem weißen Raum des New Yorker Guggenheim Museums
Foto Heiner Bastian