Briefe an die HerausgeberFrankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.2006, Nr. 293, S. 18
Beuys und Darmstadt
Beuys hat einmal gesagt: "Wenn ich rede, lehre ich, wenn ich zuhöre, lerne ich." Als er 1972 an der Düsseldorfer Akademie vom damaligen Kultusminister Johannes Rau, der später Bundespräsident wurde, von der Düsseldorfer Akademie gefeuert wurde und später die Professur in Wien nicht wahrnehmen wollte, versuchte ihn die Städelschule nach Frankfurt zu ziehen mit dem Vorschlag, am Museumsufer in einer alten Villa seine "freie internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung" zu realisieren. Als damaliger Rektor sprach ich mit Oberbürgermeister Walter Wallmann und sagte: "Sie sind dabei, das Museumsufer zu errichten, das finden wir großartig. Aber erfahrungsgemäß werden nach dem Eröffnungstrubel auf die Dauer täglich vielleicht 100 Touristen durch die Museen gehen (wenn überhaupt). Wenn Sie internationales Aufsehen erregen wollen, kaufen Sie ein weiteres Haus am Main und lassen Sie Joseph Beuys dort seine Hochschulidee realisieren. Das wird weniger kosten und viel mehr Betroffenheit erzeugen." Er antwortete (ehrlich): "Ich verstehe nichts von Kunst, aber der Mann mit dem Hut hat mich beeindruckt. Sprechen Sie mit ihm, dann sprechen wir uns wieder."
Ich war einen langen Abend bei Beuys und trug ihm den Gedanken vor, und er war fasziniert, wie er wiederholt sagte. Plötzlich aber fragte er mich: "Jochims, wie lehren Sie eigentlich?" Diese Frage hatte mir noch niemand gestellt. Ich wollte mich kurz fassen und antwortete: "Herr Beuys, ich sage zu einem Studenten, den ich in meine Klasse aufzunehmen bereit bin: ,Wähle dir zwei Lehrer. Einer bin ich für eine begrenzte Zeit, und der andere soll ein Alter Meister sein, möglichst ein hochrangiger, der dich dein ganzes Leben begleitet. Besuche ihn immer wieder, studiere sein Werk und sein Denken, und wenn du Zweifel hast oder in einer Krise steckst, wird er dir beistehen.'"
Da ging der Kopf mit dem Hut hinunter, es war ganz still. Beuys dachte tief nach. Dann tauchte er wieder auf und sagte: "Bei mir war es Caspar David Friedrich." Er wollte nicht über Lehrkonzepte diskutieren oder mich belehren, sondern wurde flugs zum lernenden Studenten. Er hatte zugehört und sich gefragt: Wer war eigentlich mein zweiter Lehrer? Und dann tauchte in der Erinnerung Caspar David Friedrich auf - ausgerechnet ein Maler und ein Maler der Farbe; und Farbe und Malerei lehnte Beuys eigentlich ab.
Beuys erbat sich Bedenkzeit mit der Begründung, er kandidiere bei den Grünen für den Bundestag und sei damit sehr ausgelastet. Beim zweiten Besuch sagte er aus diesem Grunde ab, und als aus der Kandidatur nichts wurde, war es in Frankfurt zu spät.
Karl Ströher hatte in Darmstadt den sogenannten Beuys-Block gekauft, der als Leihgabe im Landesmuseum von Beuys 1970 installiert wurde. Als Frankfurt das Museum für Moderne Kunst plante, fragte mich der Kulturdezernent Hilmar Hoffmann, ihm sei der Beuys-Block angeboten worden für zwei Millionen Mark, was ich davon hielte. Ich riet dringend dazu und sagte, Beuys sei der bedeutendste lebende deutsche, wenn nicht europäische Künstler. Darmstadt sei weltbekannt durch den Beuys-Block, und wenn er nach Frankfurt käme, wäre das ein unverwechselbarer Schwerpunkt, wie die Jawlensky-Kollektion in Wiesbaden. Aber der Ankauf wurde nicht realisiert, dafür kaufte man nicht viel später für den gleichen Preis den schwächeren Abguß von "Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch".
Nun wurde in Darmstadt mit einem prominenten Podium über die Absicht diskutiert, die sieben Beuys-Räume zu renovieren. Das Gespräch fand leider nicht in den Beuys-Räumen statt. Die Wände sind dort mit Rupfen bespannt, die in einem beigen Ton gestrichen waren, als Beuys seine Räume 1970 einrichtete. Er hat die Installation mit diesen Wänden konzipiert. Die Direktorin aber verkündete selbstherrlich in ihrem reichlich langen Statement, desgleichen ihr Kurator: Man werde den Rupfen abnehmen, die Wände neu verputzen und weiß streichen. Das war ein Affront für das Podium und das zahlreich erschienene Publikum. Aber man war brav und diskutierte hin und her, ohne daß die Direktion einen Hör- und Lernbedarf zeigte. Beuys konnte lehren, weil er lernen konnte.
1975 hatte Beuys noch einmal gesagt, man solle die Räume so lassen, wie sie sind, und nicht renovieren. Wenn jetzt renoviert werden muß, sollten die Wandpaneele und die Rupfenbespannungen erhalten bleiben und nur erneuert werden in der ursprünglichen Farbigkeit, die sich durch ein tüchtiges Labor rekonstruieren läßt. Auch der graue Fußboden sollte, wenn notwendig, identisch erneuert werden. Vor glatten weißen Wänden wirken die Vitrinen und Objekte, die Abstände und Bezüge ganz anders. Hätte Beuys weiße Wände vorgefunden, hätte er gewiß die Räume anders installiert.
Zum Renovierungsvorhaben ist der Museumsleitung mehr Einfühlung, Respekt und Sensibilität zu wünschen. Und Lernenkönnen.
Professor Raimer Jochims, Maintal-Hochstadt