Briefe an die Herausgeber
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.2006, Nr. 293, S. 18
Die moralische Empfindlichkeit
Der Abbau und spätere Neuaufbau des "Block Beuys" im Hessischen Landesmuseum Darmstadt ist wegen der gebotenen Grundsanierung des Gesamtgebäudes unvermeidlich. Die technische Ausstattung des Hauses ist marode, der Verlauf von Röhren und elektrischen Anlagen hinter künstlichen Zwischenwänden und -decken nicht nur nicht mehr plausibel, sondern in ihrem veralteten Zustand sogar alarmierend. Kürzlich gab es nachts - niemand hatte es bemerken können - im Foyer in Deckenhöhe einen Rohrbruch; das schmutzige Wasser ergoß sich hinter die Innenfassaden, brach durch diese hindurch, lief die Wände herunter und bedeckte den Flur zentimeterhoch. Das hätte ebensogut in den Beuys-Räumen passieren können. Nicht auszudenken!
"Jeder Versuch", schreibt Thomas Wagner (F.A.Z.-Feuilleton vom 7. Dezember), "sich in das einzufühlen, was Beuys machen würde, ist Geisterbeschwörung." Doch das stimmt so ja gar nicht. Weder der gesunde Menschenverstand, über den Joseph Beuys zweifellos verfügte, noch sein Gebot "Jeder Griff muß sitzen" sind außer Kraft gesetzt, erst recht nicht durch den Weggang von Beuys. Und im übrigen gilt: Alles, was er gemacht hat, offenbart auch, was er machen würde, vorausgesetzt, man nimmt tatsächlich den Geist der Dinge wahr und beschwört sie nicht nur. Es sind diese Dinge von Joseph Beuys selbst, die eine Stimmigkeit ihres Ortes beanspruchen und mit ihr die Stimmigkeit der Zeit. Hier konkret: Eine ehedem mögliche Stimmigkeit von Zwischenwänden und Wandbespannungen in einem Museum ist irgendwann erschöpft. Diese beizubehalten, solange die Zeit es erlaubt, ist das eine, sie aber im Falle in der Sache begründeter neuer Bedingungen künstlich zu rekonstruieren - genau das ist Geisterbeschwörung, um nicht zu sagen Kitsch. Ausgetretene Teppichböden im Namen der Kunst zu mumifizieren ist jedenfalls keine Intention von Beuys; so etwas wird ihm immer nur angedichtet, das ist das Übel. Seine Arbeit muß davor behütet werden.
Die Neubespannung der Wände in der Form, wie sie Beuys seinerzeit bei der Einrichtung seiner Arbeiten in Darmstadt vorgefunden und in Kauf genommen hat, wäre auch gedanklich ein Attrappenmanöver, das Authentizität nur vortäuscht. Thomas Wagner weist zu Recht immer wieder auf die Atmosphäre der Räume hin. Woher aber rührt diese Atmosphäre eigentlich? Sie auf das Äußerliche zu beschränken hieße, sie zu vergiften, und hieße, dem Geist der Arbeit von Beuys (gerade auch ihrer physischen Manifestationen") und ihrer moralischen Empfindlichkeit zuwiderzuhandeln. Letzteres füge ich in vollem Bewußtsein an, wohl wissend, daß so etwas allerdings den gegenwärtigen Zeitgeist aufschreckt. Aber die Rede von "Atmosphäre" wäre anderenfalls nur sentimentale Augenwischerei.
Johannes Stüttgen, Düsseldorf