"Alle Gewalt geht vom Volke aus"
VON DER ZUSCHAUER- ZUR TEILNEHMER-DEMOKRATIE
Vortrag von Ernst Lutterbeck
ErnstLutterbeck, MinRat a.D., hielt diesen Vortrag am 15.Februar1989 im Albert-Schweitzer-Haus,Bonn-Bad Godesberg
Ich beginne mit einem Zitat des Staatsmannes, der schon vor fast 2.500 Jahren in der ersten Demokratie der Menschheit, in Athen, gelebt, gewirkt und der Athen großgemacht hat, Perikles: "Bei uns heißt er, der an den Dingen des Staates keinen Anteil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondem ein schlechter." Das sollte sich auch heutzutage und hierzulande so mancher gesagt sein lassen. Am Anfang aller Übungen, die wir heute anstellen wollen, steht das Faktum, daß alle unsere Bemühungen um direkte Demokratie von den sogenannten "herrschenden Kreisen" unseres Landes nicht zur Kenntnis genommen werden, und zwar das Faktum, das der Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) darstellt: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt."
"Alle Gewalt geht vom Volke aus"! Was heißt das? Das heißt, daß das Volk der Souverän ist, nicht der Bundespräsident, nicht der Bundestag, schon gar nicht die Bundesregierung und am wenigsten die Parteien. Diesem Souverän aber wird nun seit 40 Jahren sein im Art. 20 Abs. 2 festgelegtes Recht vorenthalten. Und im Wesen eines Souveräns liegt es doch wohl, daß er Entscheidungen trifft, daß ihm die Befugnis zukommt, die Initiative selbst in die Hand zu nehmen, wenn es in einem Volksentscheid so entscheidet. "... und Abstimmungen"! Daraufkommtesentscheidendan, unddasistderAusgang spunkt unserer Überlegungen. Zunächst sind dazu einige Erläuterungen erforderlich.
"Das plebiszitäre Defizit unserer Verfassungswirklichkeit"
Die meisten Grundgesetzkommentare, zum Beispiel der bekannteste, "Mauz/Dührig", gelten heute noch in der gesamten Verfassungsjustiz als nahezu sakrosankt. Und diese Grundgesetzkommentare definieren solange an dem Ausdruck ". . . undAbstimmungen" herum, bis zum Schluß das Gegenteil von dem herauskommt, was die "Väter der Verfassung" wirklich gewollt haben. Ich werde das noch beweisen.
So wie die Verfassungspraxis sich bis heute entwickelt hat, geht eben nicht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Der frühere Bundesinnenminister, Professor Maihofer immerhin der für das Verfassungsrecht zuständige Minister(!) - nennt dies "das plebiszitäre Defizit unserer Verfassungswirklichkeit". Die Gewalt geht vielmehr nach außen hin ausschließlich von den Parteien aus. Diese, d.h. ihre Vertreter, werden zwar alle vier Jahre vom Volke gewählt, aber Wahlen sind immer unspezifisch, pauschal, undifferen ziert. Was sind schließlich die Wahlprogramme der Parteien wert? Sie sind schon am Tag nach der Wahl Makulatur. Die Wähler müssen nach unserer Wahlpraxis die Katze im Sack kaufen, sie stellen den Parteien mit Abgabe ihrer Stimme eine Blanko-Vollmacht aus. Das Wichtigste, was der mündige Staatsbürer hat, seine Stimme, gibt er unwiderruf lich weg. Er hat sie im wahrsten Sinne "abgeordnet", und so entstehen dann "Abgeordnete". Diese sind zwar angeblich "Vertreter des ganzen Volkes, anAufträge und Weisun gen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", wie es inArtikel 38 Abs. 1 GG ebenso schön wie in der Praxis unzutreffend heißt.
Wie sieht denn die Praxis aus?Jeder Abgeordnete vertritt, fast ohne Ausnahme,die Interessen seiner Partei bzw. Fraktion und leistet also höchstens indirekt und mehr zufällig etwas für das Wohl des ganzen Volkes. Gibt es nicht Großkonzerne, die sich "ihren" Abgeordneten halten? Erinnert man sich nicht noch dunkel an die Barschel-Afffäre, an die "Landschaftspflege" des Herrn von Brauchitsch im Auftrage des Flick-Konzerns und an viele ahnliche Skandale? WeiB man nicht, daB die meisten Abgeordneten nicht die InteressendesGesamtvolkes, sondern der Wrtschaft, der Gewerkschaften, der Landwirte odergar einzelner Branchen vertreten? Über das "Gewissen "lassen Sie mich lieber schweigen, es ist nur allzuoft mit dem Bankkonto oder anderen Interessen gekoppelt. Fazit? Geht in unserer parlamentarischen Demokrabie wirklich alle Gewalt vom Volke aus, oder nicht doch eher von den 20 Obersten in jeder Partei und nichtzuletzt auch von den Bewohnem der Chefetagen von Großbanken und Multis?Sindwir,das Volk, vondem angeblich alle Gewalt ausgeht, nicht als eigentlich nur Zuschauer in dieser Demokratie, die sich zwischen den Wahlen nur auf dem Bildschirm abspielt? Daß solche Fragen überhaupt gestellt werden können, zeigt doch schon, daß die Rede von der Staatsgewalt, die vom Volke ausgeht, nicht viel mehr als eine schöne Metapher ist, auf die sich "die da oben" in ihren Sonntagsreden berufen können.
Gebetsmühlenartige Wiederholungen
Aber das ist ja im Hinblick auf unser Thema noch längst nicht alles. Es heißt doch in Artikel 20 Abs. 2 ganz eindeutig, daß die Staatsgewalt "vom Volke in Wahlen und Abstimrnungen" usw. ausgeübt wird. Ja, wo sind denn diese Abstimmungen? Hat jemand von Ihnen schon einmal an einer bundesweiten Volksabstimmung teilgenommen? Wohl kaum, denn die Möglichkeit dazu gibt es nicht. Warum gibt es sie nicht? Warum gibt es wohl ein Bundeswahlgesetz, mit dem Parteien und Abgeordnete von Parteien gewählt werden, aber kein Bundesabstimmungsgesetz?! Das ist die Frage, die uns jetzt zunächst beschäftigen soll. "... und Abstimmungen", das heißt nicht schlicht das, was da steht, und das, was die "Väter des Grundgesetzes" mit diesem Wort gewollt haben, sondern die "herrschende Lehre" hat dekretiert - und fast alle Politiker, lournalisten, Juristen haben das fraglos akzeptiert! - "Die Einführung einer unmittelbaren Demokratie ... würde in einer modernen Industriegesellschaft mit ihren hohen Bevölkerungszahlen und komplizierten Rechts- und Organisationsproblemen schon an ihrer praktischen Undurchführbarkeit scheitem; sie würde überdies einer demagogi schen Beeinflussung des Volkes die unmittelbarste politisch-rechtliche Wirkung ver schaffen."UndjetztkommtdererstaunlicheSaltomortale:"DasGrundgesetzhatsichda her für die mittelbare Demokratie entschieden.. ." (GG-Kommentar Hesselberger, S .134) .
Das heißt doch nichts anderes, als daß die Bestimmung "... und Abstimmungen" schlicht negiert wird, als ob es sie gar nicht gäbe. Es wird lediglich auf Artikel 38 Abs. 1 verwiesen, durch den ja die Berücksichtigung des Willens des Souveräns, des Volkes nämlich, genügend gesichert sei. DieserArtikel enthält aber nur Bestimmungen über die Wahl und die Pflichten der Abgeordneten. Also gerade nicht die Berücksichtigung der vom Volke ausgehenden Staatsgewalt, die in Abstimmungen zum Ausdruck kommen soll! Schmutzige Tricks solcherArt und die ständige, gebetsmühlenartige Wiederholung längst widerlegter Geschichtslegenden ziehen sich durch nahezu alle Grundgesetzkom mentare und die gesamte bisherige Diskussion über die Volksgesetzgebung, von Anfang an!
Man ist also gezwungen zu folgern: Daß Volksabstimmungen zwingend vom Grundgesetz vorgeschrieben sind, ist ganz eindeutig und mit guten Gründen nicht mehr zu bestreiten. Man argumentiert von der einen Seite her nur, daß Volksabstimmungen nicht "zweckmäßig" seien. Als ob es hier um Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit gehen könnte ! Seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes verweigert "man", d.h. die um ihr Monopol bangenden Parteien - nicht die GRÜNEN, die die Einführung des Volksentscheids in ihrem Programm haben, sich bisher aber nur halbherzig dafür eingesetzt haben -, im Bunde mit der ihnen dienenden "herrschenden Meinung" der Verfassungsrechtler dem Volke mit absurden, blamablen und durchsichtigen Gründen und mit verfassungs widrigen Tricks das ihm zustehende Mitwirkungsrecht bei der Ausübung der Staatsgewalt.
Damit es wirklich ganz klar ist, wiederhole ich noch einmal: Es geht nicht darum, ob irgendeine Partei oder der Bundestag insgesamt dem Volke gnädig "plebiszitäre Elemente" gewährt, wie sie das meist mit schlechtem Gewissen verschämt nennen und womit sie irgendwelche Volksbefragungen - oder was auch immer - meinen. Sondern wir, das Volk, der Souverän, wollen endlich das uns verfassungsmäßig zustehende, aber seit 40 Jahren vorenthaltene Recht ausüben, als Träger der Staatsgewalt mitzuentscheiden.
Auch wenn man Meinungsumfragen nicht überbewerten sollte, so sollte es doch zu denken geben, daß eine von der "Aktion Volksentscheid" 1986 bei INFAS in Auftrag gegebene Umfrage ergeben hat, daß nur 17 % aller Wahlberechtigten ein Abstimmungs recht des Volkes nicht für nötig halten. Nach all den Skandalen seither ist diese Zahl sicherlich noch viel geringer worden. Nun gibt es - wen wundert das? - noch andere verfassungsrechtliche Spitzfindigkeiten, mit denen man gegen den Volksentscheid zu Felde zieht. Ich kann im Rahmen dieses kur zen Vortrags auf die meisten nich~ eingehen. Einige seien aber besonders erwähnt, weil sie besonders einseitig sind.
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