Die Dreigliederungsidee Rudolf Steiners

Vortrag von Ernst Lutterbeck, MinRat a.D.

 

Ziemlich zu Anfang habe ich ein Zitat Rudolf Steiners gebracht, von dem ich gesagt habe, es könnte als Motto über der ganzen Volksgesetzgebung stehen: "Ich will mitreden können, wenn das Recht entsteht." Ist damit nicht alles gesagt? Das Recht entsteht durch Gesetzgebung, und dabei will ich mitreden können. Erlauben Sie, daß ich für diejenigen, die bei meinem letzten Vortrag nicht dabei waren, noch einmal in wenigen Sätzen das revolutionäre Konzept der Dreigliederung umreiße:

Es geht dabei um die Versöhnung und die endliche Realisierung der drei Postulate der großen Französischen Revolution: Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit. Sie sind zusammen bisher noch an keinem Ort der Welt, abgesehen vielleicht von Klöstern, wobei dann die Freiheit spirituell zu verstehen wäre, und von anthroposophischen Projekten aller Art, verwirklicht worden. Warum nicht? Darüber wird jetzt zum 200. Jubiläum der Französischen Revolution unendlich viel geredet und geschrieben; das meiste, jedenfalls soweit ich es zur Kenntnis nehmen konnte, scheint mir so zu sein, wie wenn der Blinde von der Farbe spricht. Diese drei für den Fortgang der Menschheit in der Tat entscheidenden Postulate konnten ihrem inneren Wesen nach nicht zusammen verwirklicht werden, weil sie untereinander unverträglich sind, wenn sie nicht - und hier kommt der total neue und entscheidende Gedanke Rudolf Steiners zum Zug -, wenn sie nicht auf den Bereich beschränkt werden, für den jene von ihnen ihre Gültigkeit hat, also

- die Freiheit für das Geistesleben (Wissenschaft, Erziehung, Medien),

- die Gleichheit für das Rechts- und Staatsleben

- die Brüderlichkeit für das Wirtschaftsleben.

Ich habe im letzten Vortrag gezeigt, wieso es unsinnig ist, diese drei Postulate für einen anderen als dem ihr gemäßen Bereich zur Wirkung bringen zu wollen. Das führt im Endeffekt zur Unfreiheit, zum Wirtschaftschaos und unsozialer Gesellschaft. Rudolf Steiner hat nachgewiesen, daß schon der Erste Weltkrieg - und erst recht gilt das für den Zweiten Weltkrieg - weder aus militärischer noch aus weltpolitischer Notwendigkeit entstanden ist, denen die Regierungen auswichen, indem sie die Auseinandersetzung mit dem äußeren Feind suchten. Das ist also nicht viel anders als bei dem Ehemann, der vielleicht weil er mit seiner Arbeitslosigkeit nicht fertigwird-deshalb zu trinken anfängt, immer weniger mit sich fertig wird, immer mehr trinkt und schließlich zu Hause seine Frau und Kinder verprügelt. Persönliche und geschichtliche Katastrophen entstehen aus den gleichen Gründen.

Nun ist der Vorwurf, das sei Utopie, so alt wie die Dreigliederungsidee selbst. Schon Rudolf Steiner hat sich damit auseinandergesetzt und dies insofern widerlegt, als er gesagt hat, wenn nur eine relativ kleine Anzahl von Menschen diese Idee, wirklich verstehen und verinnerlichen würden, dann realisiere sich diese Idee mit der Zeit quasi von selbst. Aber diese kleine Schar hat er selbst leider nicht gefunden, was für ihn und für die Welt eine große Tragödie war. Heute scheinen sich die Aussichten, daß immer mehr Menschen von dieser Idee wirklich ergriffen werden, langsam zu verbessern. Im Gegensatz zu manchen die - meiner Ansicht nach aus Bequemlichkeit und mangelndem "sozialen Gewissen" (Steiner) - auch heute noch sagen, die Zeit sei eben noch nicht reif dafür, sage ich:

Die Zeit ist reif!

Aber, und das war immer die große Frage auch bei allen, die sich gerne für die Dreigliederung einsetzen würden, wie kann man sich die Realisierung der Dreigliederung vorstellen? Ich wiederhole noch einmal, daß es bei uns und in vielen anderen Ländern bereits Institutionen, Organisationen, Schulen, Universitäten, pharmazeutische Fabriken, Bauernhöfe, Softwarehäuser usw. gibt, die mehr oder weniger nach Dreigliederungsgesichtspunkten funktionieren, leben und arbeiten. Aber ohne ihre enormen Verdienste auch nur im geringsten schmälern zu wollen: es sind Insellösungen, vergleichbar vielleicht am ehesten mit den Klöstern als Inseln des Glaubens in einem Meer von Unglauben. Es fehlt bisher die übergeordnete Klammer, es fehlt jemand oder etwas, der nicht eine beschänkte Aufgabe in einem beschränkten Bereich "dreigliedrig" bearbeitet, sondern der versucht, die ganze Gesellschaft, den Staat, die Wirtschaft, die Kultur, das Erziehungswesen lang sam aber zielstrebig in die Richtung der Dreigliederung zu bugsieren (welchen Ausdruck ich für passend halte: dahinter steht das Bild des kleinen Bugsierschleppers, der ein Riesenschiff langsam aber sicher an die Pier bringt oder in die offene See geleitet).

Das, was da fehlt, der archimedische Hebel sozusagen, das Instrument, das geeignet wäre, diese revolutionäre Gesellschaftsidee der Dreigliederung des sozialen Organismus Schritt für Schritt, erst ganz langsam, dann immer schneller in die Tat umzusetzen, dieses Instrument ist die Volksgesetzgebung.

Ein weiser alter Mann Pfarrer Ogilvie, hat auf die Frage eines Journalisten, daß bis heute noch nirgendwo die Dreigliederung so richtig gelungen sei, geantwortet: "Dann wird sie durch eine Katastrophe kommen, wenn es nicht aus freiem Willen und aus Einsicht geschieht." Ich bin fest überzeugt: Der Mann hat recht! Deshalb noch einmal: Die Zeit ist reif! Rudolf Steiner hat mit der Idee der Dreigliederung auch ein neues Verständnis des Politischen aufgezeigt. Nach diesem neuen Verständnis geht es darum, durch entsprechende Gesetzgebungen die Grundlagen dafür zu schaffen, daß Staat, Wirtschaft und Kultur sich so entwickeln können, wie es den Bedürfnissen der ein Gemeinwesen bildenden Menschen entspricht. Er sagt: "Die Gesetzgebungen bilden die Grundlage für die Struktur des sozialen Verhaltens" (02.10.1918). Daraus ergibt sich doch zwingend die Aufgabe aller, daran mitzuwirken, daß alle gegenwärtigen Gesetze (politischen Verträge, Organisationen, Methoden usw.), die der Bedingung der Freiheitsgestalt des sozialen Organismus zuwiderlaufen, langfristig abzuschaffen bzw. umzuformen und durch Volksentscheide eine neue Rechtsgrundlage zu schaffen.

Wie aber soll das geschehen? Durch die derzeitigen Parteien? Sie werden (fälschlicherweise) sagen: Wir werden uns doch nicht durch diese Volksgesetzgebung das eigene Wasser abgraben lassen! Dies aber täten sie gar nicht, wenn sie der Volksgesetzgebung zustimmen würden. Man braucht sie ja auch in einer Dreigliederungsgesellschaft. Nein, von ihnen ist wohl nicht viel zu erwanen. Obwohl - wie ich sagte - die SPD und die GRUNEN langsam aufwachen.

Nein: Wir, das Volk müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen. Zunächst mit dem Versuch eines selbstorganisienen, bundesweiten Volksentscheids. Das alles steht ja in dem Ihnen ausgehändigten Stimmbrief. Weitere können Sie zur Veneilung in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis in Achberg anfordern. Sollte diese Abstimmung nicht gelingen - viele, viele sind dafür, das weiß ich aus Erfahrung, aber die meisten sind zu träge, den Stimmzettel nach Achberg zu schicken -, so müssen wir uns andere strategische Ideen überlegen: Fernsehsendungen, Pressearbeit, lokaleAktionen, Überzeugungsarbeit in den Parteien selbst. Wir müssen immer und überall trommeln. Rudolf Steiner spricht auch von der jetzt notwendigen (NOT-wendigen!) "Sozialisierung der Herrschaft".

So wie der berühmte Künstler und Anthroposoph Joseph Beuys gesagt hat, daß jeder Mensch ein Künstler sei, so ist jeder Mensch im Verein mit seinen Mitmenschen sein eigener Gesetzgeber. Wir, das Volk, der Souverän, sind die Quelle des Rechts, nicht die Paneien oder irgendein Abstraktum. Also müssen wir einen Weg finden, um den uns zustehenden Einfluß auf Recht, Politik, Winschaft und Kultur geltend zu machen. Dieser Weg heißt: Volksentscheid.

Damit komme ich zum Schluß: Immer mehr kompetente Juristen und Politiker nähern sich dem Gedanken der Volksgesetzgebung oder unterstützen ihn sogar offen. Sie geben zu, daß die Altparteien, die Bürokratie, die Justiz mit allen Mitteln das Volk unmündig halten wollen. Selbst hochgestellte Politiker äußern sich immer öfter und immer eindeutiger im Sinne unserer Bestrebungen, so zum Beispiel aus der SPD Jochen Vogel, Oskar Lafontaine, Herben Schnoor, Helga Däubler-Gmelin. Und sogar aus der FDP, die früher einmal - zu Zeiten Karl-Hermann Flachs - den Volksentscheid bereits in ihrem Programm hatte, meldet sich eine einsame Stimme dafür: Frau Hamm-Brücher. Nur aus der CDU/CSU ist mir niemand bekannt. Ich bin aber überzeugt, daß es auch in diesem Lager Zustimmung gibt. Man traut sich nur nicht, es zu sagen. Man will ja wieder aufgestellt werden! Dabei ist der Volksentscheid doch politisch ein absolut neutrales Instrument, dessen sich auch Konservative bedienen können. Fazit: Ich bin absolut davon überzeugt: Die Zeit ist reif !

Vortrag von 15.2.1989 im Albert-Schweitzer-Haus, Bonn-Bad Godesberg