zum erweiterten Kunstbegriff von JOSEPH BEUYS
FIU Kassel
So wie der Mensch nicht da ist, sondern erst entstehen muß,
so muß auch die Kunst erst entstehen , denn es gibt sie noch nicht. J B
Beuys wichtigster Beitrag bestand darin, die Kunst aus den Randzonen der Gesellschaft mitten in das Lebens- und Arbeitsfeld hineingetragen zu haben. Das er dies zugleich als eine in der Sache selbst begründete, auch therapeutische Notwendigkeit ansah, wird selbst von einem interessierten Publikum nur unzureichend nachvollzogen. Die meisten Zeitgenossen sehen in Beuys den Künstler, der neue Materialien in die Kunst einführte; weniger sehen sie in ihm denjenigen, dem diese Materialien dazu dienten, den Kunstbegriff seiner Zeit radikal zu revolutionieren. Deswegen ist auch schwer durchschaubar, daß dem erweiterten Kunstbegriff auch ein gewandelter Materialbegriff einherging: ein neuer Inhalt der Kunst.
In diesem Kontext waren Filz und Fett nur die Vorboten eines viel größeren Umsturzes, der nicht in irgendwelchen Randbereichen, sondern in den Zentralen eines bereits hypertroph gewordenen Kunstbetriebs statt fand. Dabei sieht er die Kunst als eng mit der Erkenntniskraft zu sammenhängend: der Gedanke ist das erste Produkt
Deswegen kann es mit dem in die anthropologische und soziale Dimension erweiterten Kunstbegriff nicht um kunsttherapeutische Beiläufigkeiten, nicht um ein Nebenbeikurieren an den Symptomen gehen, sondern darum, zuerst das »Tragende « zu befreien. Das Tragende aber ist die Arbeit des Menschen. In diesem Zusammenhang liegt eine unbedingte Priorität für die Zukunft der neuen Kunstdisziplin, die eine Wärmeskulptur zum Ziel hat.
Mit Joseph Beuys "erweiterten Kunstbegriff" hat keine Stilrevolution, vielmehr eine Sinnrevolution stattgefunden. Mit dem letzten gepflanzten Baum seiner »7000-Eichen«-Skulptur zu Beginn der documenta 8 ist sichtbar geworden, daß die Frage nach der Qualität im plastischen Vorgang heute anders als früher zu ent scheiden ist: das zu formende Material der Kunst ist jetzt universell.
Solche Fragen weiterzutragen, hat in der FIU-Kassel dazu geführt, während der 100 documenta-Tage im Sommer I987 ein Projekt durchzuführen, dessen Kern die »Soziale Skulptur« im Werk von Joseph Beuys bildete. Das Anliegen zielte darauf, eine Auseinandersetzung herbeizuführen, um den Stand der Begriffe und deren notwendige Erweiterung aufzuzeigen und die kontinuierliche - in Kassel seit I977 bestehende - Arbeit der FIU sinngemäß fortzusetzen.
Im Informationscontainer vor dem Hauptgebäude der documenta 8 arbeiteten elf Mitarbeiter im Wechsel 100 Tage. Wichtig in den Gesprächen mit kunstinteressierten Besuchern aus aller Welt war, den Ist-Zustand der Kunst zu problematisieren, ihren affirmativen Charakter bloßzulegen und die Möglichkeiten eines jeden einzelnen zu erörtern, von der Kunst ausgehend aktiv in die gesellschaftlichen Zusammenhänge einzugreifen. »Und mir kam es darauf an, daß hier Tiere an der Arbeit beteiligt sind« (Joseph Beuys), war das Motto an der Stirnseite des Veranstaltungsraumes.
Zum Ende des 100 tägigen Geschehens wurde der » OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMOKRATIE IN DEUTSCHLAND« vorgestellt. Als über die Veranstaltungen hin ausweisendes Element begann er von Kassel aus seine Reise durch Deutschland, um ein wichtiges Zeitanlie gen klarzumachen: Ohne die Selbstbestimmung des Menschen in voller Freiheit und Selbstverantwortung kann es keine qualitative Weiterentwicklung des Bestehenden geben. Im Prozeß zum Volksentscheid liegt das Übungsfeld der sozialen Skulptur. Im vorliegenden Buch sind nun zehn Vorträge und Gespräche ausgewählt, die zusammen mit den Photographien und Beschreibungen einen ersten Eindruck der »Unsichtbaren Skulptur« geben können.
©FIU Kassel 1989