Der Totale Markt als Religion

Auszüge nach dem Buch von Carl Amery >Global Exit< Luchterhand 2002, zusammengestellt KunstKurs 11/2 Immanuel-Kant-Gymnasium 2002


Bedürfnis und Marketing / Wie das funktioniert: das entfesselte Angebot ? / Wahrheit ist nicht operativ / Fazit

 

Bedürfnis und Marketing

Beginnen wir von vorn, und befassen wir uns mit drei Stichwörtern, die uns weiterhelfen können: Bedürfnis, Marketing, Bedienung des Kapitals.

Das erste: Bedürfnis.

Es ist der Angelpunkt jeder Wirtschaftstheorie - und dabei völlig unbestimmbar. Als alleroberste (oder allerunterste) Bedürfnisse lassen sich Atemluft, Trinkwasser, eine bestimmte Kalorienzufuhr und ein verträglicher Abgleich von Körper- und Außentemperatur ausmachen - alles andere, einschließlich der Sexualität, ist in Auswahl wie in Dringlichkeit wenn nicht kulturell bedingt, so zumindest kulturell überformt. Das Netz der Bedürfnisse entsteht (oder wird uns bewußt) aus der Artikulation der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit und aus ihren Symbolen.

Wenn die Wirtschaftswissenschaft (meist mit unschuldigem Augenaufschlag) erklärt, der Markt tue schließlich nichts anderes, als die Bedürfnisse zu befriedigen, dann übersieht oder überschweigt sie diese zutiefst unausweichliche Entstehungsgeschichte. Natürlich gibt es positive, kulturell notwendige, ja edle und gesellschaftlich aufbauende, gesellschaftlich erhaltende Bedürfnisse. Manche befriedigt der Markt durchaus, durch gute CDs etwa oder gutes Essen (deren Güte eindeutig kulturell definiert wird). Manche kann er schon nicht mehr brauchen und unterdrückt oder überspielt sie, etwa den Bedarf an Stille oder an robusten Übungen der geistigen und geistlichen Disziplin. Und die allermeisten erfindet oder verstärkt er: Auto- und Kleidermoden, fünf Stunden tägliches Fernsehen, Junkfood für und Pornovideos von Kindern, aufwendige Urlaubsreisen und Drogentrips, neue Trends in Sexpraktiken, bei Kücheneinrichtungen und Sportidolen. Natürlich wird kein Vorkämpfer des »demokratischen Kapitalismus« zugeben, daß er das alles will. (Vielleicht ist er dabei sogar subjektiv ehrlich.) Er wird immer darauf bestehen, daß die Macht der beiden anderen Hände dafür zu sorgen hat, daß die moralischen und sozialen Rahmenbedingungen eines gesunden Gesellschaftslebens gesichert sind und bleiben.

Das nützt aber gar nichts. Denn hier kommt das zweite Wörtlein ins Spiel: Marketing.

 

In altersgrauer Zeit ging man auf den Markt, wenn man etwas haben wollte: Eier oder Fleisch oder ein neues Wams. Die jeweilige Polizei wachte strengen Auges darüber, daß nicht zuviel verlangt und daß nichts angeboten wurde, was den jeweiligen guten Sitten zuwiderlief.

 

Heute ist das ganz anders: Der Markt ist kein fester Stadtplatz mehr, sondern eine Reiterarmee; er galoppiert dem Kunden, jedem potentiellen Kunden, hinterher. Nun gibt es eine stupende Einsicht der Wirtschaftswissenschaft: Soll ein Geschäft zustande kommen, müssen beide etwas davon haben, der Anbietet wie der Käufer. Was ist aber, wenn der Totale Markt gebieterisch WACHSTUM fordert, aber die Bedürfnisse der globalen Kundschaft gleich bleiben? Dann müssen die Bedürfnisse eben ausgeweitet, wenn möglich neue, geschaffen werden ; Bedürfnisse nach neuer Ware, nach bisher unbekannten Dienstleistungen, deren Unentbehrlichkeit einsichtig gemacht werden muß, um etwas stärker als bisher oder gar etwas ganz Neues absetzen zu können. Der Rest folgt zwangsläufig. Illustrieren wir diesen zwanghaften Ablauf an einem konkreten Beispiel: der Unterhaltungselektronik.

Und wie könnte es anders sein? Der Markt verlangt sein Recht. Sicher, die Politik und die gesellschaftliche Solidarität müssen für akzeptable Rahmenbedingungen sorgen - aber sie sind nur akzeptabel, solange sie dem obersten Gesetz des Marktes, dem WACHSTUM, nicht im Wege stehen. Täten sie das nämlich, wären die Folgen entsetzlich: Sozialismus und Planwirtschaft stünden mit entblößten Reißzähnen in der Tür. Lassen wir also, mit leisem ethischem Bedauern, den Totalen Markt sein Nagewerk an den Säulen der Zivilgesellschaft - und an unseren Seelen - auch weiterhin verrichten! Blicken wir den letzten Resten von Geschmack, von Selbstdisziplin, von moralischen Standards aller Art leicht nostalgisch nach und rüsten wir uns für die nächsten logischen und ästhetischen Zumutungen der Alternativlosigkeit: TINA.


Wie das funktioniert: das entfesselte Angebot ?

Was ist eigentlich die Logik des Totalen Marktes? Sie ist ebenso zwingend wie banal: Das Angebot an Produkten und Dienstleistungen muß ständig präsent sein. Es muß so reichlich sein, daß nicht nur jeder Bedarf augenblicklich befriedigt wird, sondern darüber hinaus ständig neue » Märkte«, d. h. neu gefundene oder erfundene Bedürfnisse, entstehen.

Um diesen Bedarf zu decken und neuen vorwegzunehmen, werden Ressourcen von der Welt, der organischen wie der anorganischen, angefordert und eingezogen; Energie- und Stoffströme aus äonenlang aufgebautem und gespeichertem Biokapital. Und das gibt's letzten Endes gratis: Der Safeinhalt selbst kostet nichts, nur das Einbruchswerkzeug und das zu bestechende Wachpersonal. Darauf beruhen Macht und Ansehen der politischen, der wissenschaftlichen, der technischen Safeknacker.

 

Und natürlich auch der Triumph der Hausierer, deren Aufgabe es ist, die Ungläubigen zu neuen, von ihnen selbst bisher unerahnten Bedürfnissen zu erziehen. Ihre emsige Seelsorge erfüllt Erde, Luft und Wasser mit den Botschaften des Konsums, hat die Ränder der Landschaft in Plakatwände und den Äther, über den die Fernsehbilder einfallen, in elektronisches Basargeheul verwandelt. Zirka dreitausendmal am Tag, so hat es ein estnischer Dissident für die USA errechnet, wird das kapitalistisch umworbene/gedopte Individuum mit irgendeiner Konsumbotschaft angemacht. Und die Botschaften kommen an, die Bedürfnisse klettern entsprechend. Nicht nur die Bedürfnisse - auch die Ohnmacht gegenüber den Bedürfnissen. Auf den Italienurlaub folgen zwingend Mallorca und die Malediven, auf das Radio das Fernsehen und, natürlich, das Farbfernsehen, PC und Internet, auf das Moped der VW und dann der Porsche. Und da sehr ursprüngliche Bedürfnisse wie z. B. der Wunsch nach Einsamkeit, das Fangen von Forellen mit bloßer Hand und ähnliche utopische Erinnerungen der Menschheit nicht mehr eingelöst werden können, öffnet man die Schleusen der Virtualität - von den zwanzig, dreißig Fernsehkanälen bis zum dreidimensionalen Sensorium der Computerwelt...


Wahrheit ist nicht operativ

Ein anderer Kollateralschaden, der sich aus der Marketingmethode zwangsläufig ergibt, ist der immer kläglichere Zustand der Wahrheit. In diesem Punkt sind sich Markt und Politiker übrigens einig. Abgesehen von den »Mythemen« (Mythenschnipseln) der allgegenwärtigen Werbung, die sich zu einer flatternden Videowand des Wohlstandsrituals zusammenfügen, ist es vor allem das Zentraldogma TINA - there is no alternative-, welches gesonderter Meinungspflege bedarf. Dafür hat sich wiederum eine gesonderte Dienstleistungsbranche, das sogenannte Concept Marketing, gebildet. .........

Die Veränderungen, die laut demokratisch-kapitalistischer Doktrin gar nicht stattfinden dürften, die der Markt aber laufend bewirkt, sind also massiv und absolut kulturzerstörend. Insgesamt sind wir, ohne es wirklich zu merken, etwa zu vier Fünfteln dem Endpunkt des dystopischen Zukunftsromans von Aldous Huxley, Schöne neue Welt, nahe gerückt. Fast alle unsere Moralvorstellungen und technischen Manipulationsmöglichkeiten, von Promiskuitätsritualen über kommerziell angepaßten Hedonismus und standardisiertes Freizeitverhalten bis zur Menschenanfertigung in der Retorte, entsprechen den Verhältnissen von Huxleys Warnerzählung.


Fazit

Der Totale Markt erfüllt alle Kriterien einer Religion.

Sein Dogmenbestand ist transzendenzarm und banal; seine oberste Maxime lautet: Alles hat seinen Preis, und wenn etwas noch keinen hat, wird er ihm angeheftet.

Trotzdem (oder gerade deshalb) ist er zur alternativlosen Instanz der globalen Entscheidungen geworden.

Altväterglaube ist der Glaube an die Wachstumsspirale und unseren wirtschaft-wissenschaftlichen Endsieg.

Nach der demokratisch-kapitalistischen Doktrin sollte der Markt einerseits durch die Politik, andererseits durch die Kräfte der Zivilgesellschaft gesteuert und in Schranken gehalten werden.

Weder die Politik noch die Zivilgesellschaft erfüllen diese Bedingung. Sie ist zunehmend unerfüllbar, weil der Totale Markt selbst ihre Fundamente zersetzt.

Trotz seiner (scheinbaren) Transzendenzarmut hat der Totale Markt daher eine ungeheure seelsorgerische Wirkung, die bis zur Entsorgung von Seele überhaupt geht.

In der historischen Raum-Zeit nimmt der Totale Markt die Funktion einer Reichsreligion wahr, die strukturell ziemlich genau der des spätrömischen Kaiserkults entspricht. Damals wie heute galt und gilt die Formel TINA - there is no alternative.

Was ihn jedoch radikal vom römischen Kaiserkult unterscheidet, ist seine Wirkmacht: In der evolutionär entfalteten Biosphäre wirkt der Totale Markt als Todesmaschine. Da die meisten und synergetisch wichtigsten, nämlich die sogenannten niedrigen Lebensformen sogar von ihr nicht umzubringen sind, ist der Heroismus der Maschine zunächst der des kollektiven Menschheitsselbstmords, unter Mitnahme des uns vertrauten biosphärischen Zustands.

Nach diesem könnte die Evolution zu Prozessen zurückkehren, die nicht mehr durch die Anwesenheit eines Faktors artspezifischer Intelligenz (homo sapiens) kompliziert würden. (In Zukunft, so meinen Fachleute, würde die Natur diesen Fehler wohl kaum wiederholen.)

Im folgenden wird zu untersuchen sein, in welcher Form und mit welcher Praxis sich die Menschheit , deren Geschichte sie absolut nicht auf eine solche Gegenwart vorbereitet hat, diesen Aussichten stellen, nicht stellen oder stellen müssen. Da unsere westliche Zivilisation an der Entstehung dieser Gegenwart heftig beteiligt war und ist, fällt uns die entsprechende Verantwortung zu. Es geht um Wirklichkeit oder Unwirklichkeit unseres Daseins, um die Verschlingungen von Erd- und Menschheitsgeschichte. Darunter (oder oberhalb dieser Entscheidungsebene) ist an eine Zukunft der Menschen nicht zu denken.

Ja die Religion des Totalen Marktes ist in der Tat ein Fundamentalismus: Eine geschlossene, also paranoische Logik wird zum heimeligen Wohncontainer, aus dem Unzulängliches und Widersprüchliches ausgesperrt wird und der sich alles zur verfügbaren Handelsmasse vereinfacht. So predigen seine Verkünder die Welterlösung.

Gibt es ein Korrektiv gegen die Fragmentierung der Verantwortung? Gibt es ein Korrektiv gegen die Privatisierung der Lebensallmende ; von Wasser, Luft ,Boden und den Genen ?