Warum wir dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung beigetreten sind …


Jedes Jahr treffen sich Menschen zum sogenannten „1000 Kreuze Marsch“; einem Marsch gegen Selbstbestimmung. Doch: viele engagierte und kluge Personen, stellen sich diesen menschenfeindlichen und rückständigen Ideen in den Weg und zeigen Widerstand. Und auch wir wollen diesen Ideologien, dem Moralprogramm und Empörungsspiralen etwas entgegensetzen. Denn die sogenannten „Lebensschützer*innen“ sehnen sich mehr nach Rückschritt als nach Fortschritt, setzen sich über die Gesundheit, den freien Willen und die Würde anderer hinweg und feiern das Patriarchat mehr als die Freiheit. Reißerisch, tendenziös und weitab von Würde und Realität.

Wir wissen, dass die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland zugenommen hat – und zwar nicht, weil die Betreffenden an Moral und Verstand verlieren, wie es fundamentalistische Gruppen gerne propagieren – sondern, weil es einen reellen Bedarf gibt. Wir wissen auch, dass Verbote Schwangerschaftsabbrüche nicht verhindern, sondern lebensgefährlich machen, denn von einer idealen Versorgungslage sind wir noch weit entfernt: Noch immer sind Schwangerschaftsabbrüche eine der häufigsten Todesursachen von Menschen mit Uterus weltweit. In vielen Ländern, auch in Deutschland, sind die Möglichkeiten eines Abbruchs also weiterhin eingeschränkt. In Münster stellt sich die Lage wie folgt dar: Neben einem guten Netzwerk an Beratungsstellen, führt lediglich eine Praxis operative Schwangerschaftsabbrüche durch. Folglich entstehen lange Warte- oder Fahrtzeiten, die gerade in solchen Situationen inakzeptabel sind. Damit ist es also nicht nur die Entscheidung für oder gegen einen Abbruch, die eine Herausforderung darstellen kann, sondern schlichtweg die Durchführung.

Zu der desolaten Versorgungslage gesellt sich zusätzlich die anhaltende Tabuisierung des Themas sowie die Stigmatisierung der Betreffenden. Schwangerschaftsabbrüche, die Menschen und Geschichten hinter den Entscheidungen, bleiben damit von Mythen und Moralvorstellungen geprägte Bilder.

Wir als Projekt Marischa fordern eine Entstigmatisierung der Betreffenden, die Selbstbestimmung aller Menschen und ganz praktisch eine bessere Versorgung. Insbesondere wollen wir dabei die Perspektive unserer Adressierten, der Menschen in der sexuellen Dienstleistungsbranche, vertreten. Diese werden seit jeher diskriminiert und zu einem Teil verschiedener, auch innerfeministischer Kämpfe gemacht. Wenn eine sexarbeitende Person dann auch noch ungewollt schwanger ist, wird dies häufig entweder „Berufsrisiko“ und „selbstverschuldet“ genannt. Gleichwohl wird das Bild der ungewollt schwangeren Sexarbeiter*in für Stimmungsmache, reißerische Berichterstattung und Moralpolitik benutzt, um eine rückständige Meinung zu untermauern.

Interessant ist dabei, dass schwangere Personen gesellschaftlich als besonders schützenswert gelten. Sie gelten aber auch in vielen Kreisen als besonders „sittliche“ und „reine“ Personen. Das passt dann aber nicht mehr in das Bild, dass viele Menschen von Sexarbeiter*innen haben. Darüber hinaus wird ihnen von vielen Menschen in sämtlichen Kontexten die eigene Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit abgesprochen, so auch bei dem Wunsch nach einer Familie oder nach einem Schwangerschaftsabbruch. Und obwohl sie häufig als „Opfer“ stilisiert werden, haben viele einen nur eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem. In Münster gibt es z.B. kaum gynäkologische Praxen, die bereit sind, unsere Adressierten leitliniengerecht zu versorgen; auch ohne das Vorliegen einer Schwangerschaft. Im Falle einer ungewollten Schwangerschaft kam es schon vor, dass unsere Klient*innen für einen Abbruch etliche Kilometer fahren oder sich verschulden mussten, weil in Deutschland nicht anerkannt wurde, dass es sich um einen Härtefall handelte, der ein paar Tage zu spät entdeckt wurde. Betreffende reisen also nicht selten in ein anderes Land, um den Abbruch dort unter abschreckenden und risikoreichen Bedingungen durchführen zu lassen.

Und: Während andere bereits zum zweiten Mal gefragt werden, ob sie denn wirklich einen Abbruch wünschen, fragt danach kaum jemand, wenn es sich dabei um Sexarbeitende handelt. Dann ist es okay … Beide Fälle sind im Übrigen hoch diskriminierend. Es finden sich sogar Statements von Menschen aus dem Gesundheitswesen über Sexarbeitende, die wie folgt klingen

„Die Leute kommen aus anderen Kulturkreisen, für sie stellt ein Schwangerschaftsabbruch kein Drama dar.“ Oder „Sie verhüten nicht, sie brechen ab.“

Dabei sprechen wir hier von Menschen, die sehr wohl wissen, was eine Schwangerschaft oder ein Abbruch bedeuten. Da sind Menschen, die bereits Kinder haben. Das sind aber auch Menschen, die von einem Kunden schwanger geworden sind oder einem Zuhälter – Oder von ihrem Partner und das eben nicht zum richtigen Zeitpunkt. Oder es sind Menschen, die schlichtweg ein kinderloses Leben bevorzugen. Ihre Geschichten sind also ebenso vielfältig wie ihre Beweggründe. Solche und andere diskriminierende Aussagen werden der Diversität des Feldes keinesfalls gerecht. Dabei findet die Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft wohl selten im luftleeren Raum statt – auch nicht bei Sexarbeitenden. Die Entscheidungen stehen vielmehr im Zusammenhang zur Gesundheit, zu sozialen, finanziellen und persönlichen Lebenslagen, Erfahrungen und Wünschen.

Aus diesen und anderen Erlebnissen resultiert, dass viele unserer Adressierten das Vertrauen in das Gesundheitssystem verloren haben. Daraus folgt nicht selten, dass Schwangerschaften fortgeführt werden, die zu keinem Zeitpunkt gewollt waren – einfach, weil der stigmatisierende Kampf um einen Abbruch gar nicht erst aufgenommen wird.

Unserer Erfahrung nach braucht es also dringend mehr niedrigschwellige Angebote und eine klügere Berücksichtigung von Härtefällen. Es braucht einen vorurteilsfreien Umgang und mehr Praxen, die alle behandeln, auch Sexarbeitende. Eine finanzielle Übernahme von Abbrüchen abseits hochschwelliger Bedingungen und kostenlose Untersuchungen nach einem Schwangerschaftsabbruch sind für alle nötig. Weiter gehört Schwangerschaft im Kontext von Sexarbeit zu den bisher kaum fokussierten Forschungs- Ausbildungsthemen in der Gynäkologie. Das muss sich ändern.

Was wir zudem fordern, ist der Schutz der körperlichen Autonomie und des freien Willens, ohne Bevormundungen oder diskriminierende Strukturen. All das, was weitab von dem ist, was auf den 1000-Kreuze-Märschen propagiert wird.

Wovon es zu viel gibt, das sind Strafen für Selbstbestimmung! Denn selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche sind ein Menschenrecht!

Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung

besteht aus verschiedenen allgemeinpolitischen und feministischen Gruppen, Verbänden, Beratungsstellen, Gewerkschaften, Parteien und Einzelpersonen.

Seit Ende 2017 setzt sich das Bündnis für das Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität und körperliche Selbstbestimmung aller Menschen ein und fordert, dass alle Menschen in Deutschland ohne Bevormundung und Diskriminierung über ihr Liebesleben und die eigene Familienplanung entscheiden können und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützt werden sollen, unabhängig von ihrer Herkunft, sexuellen und geschlechtlichen Orientierung oder sozialen, ökonomischen und gesundheitlichen Situation.

Hier gehts zum Bündnis: