Debatte

Zu den Themen Kolonialismus und Straßenumbenennungen gibt es eine lebhafte Debatte. Bestimmte Argumente gegen eine Umbenennung von nach kolonialen Akteuren benannten Straßen tauchen immer wieder auf. Auf diese wollen wir hier eingehen.

Ja, sicherlich gibt es im (lokal-)politischen Alltag Probleme, die ebenfalls wichtig und dringend sind. Die Frage ist nur, warum uns diese Probleme davon abhalten sollten, sich um die ebenso nicht unwichtige Frage zu kümmern, wen wir mit unseren Straßennamen ehren wollen. Wir können einfach beides tun: Straßenumbenennungen diskutieren und andere Probleme bearbeiten – derartige Gleichzeitigkeiten sind politischer Alltag. Durch die Umbenennung von Straßen werden auch keine Ressourcen verschwendet, die an anderer Stelle fehlen würden. Kosten für neue Beschilderung und alle weiteren Folgen einer Umbenennung halten sich im Vergleich zum Bau von Kitas oder zur Sanierung von Schwimmbädern in Grenzen. Stattdessen bietet die Umbenennung einer Straße – sollte sie aus zwingenden Gründen geboten sein – eine Gelegenheit für Politik und Bürgerschaft, ein positives Signal zu setzen und die lokale Umgebung im Sinne von Demokratie und Menschenrechten zu verändern.
Die Stadt Münster informiert auf ihrer Internetseite zu den „Folgen einer Umbenennung“ und gibt nützliche Hinweise dazu, was das für die Anwohnerinnen und Anwohner bedeutet. Dort heißt es, dass im Falle einer Ummeldung der Adressen im Personalausweis und im Fahrzeugschein keine Gebühren erhoben werden. Die Übermittlung der Adressänderung unter anderem an das Finanzamt, das Grundbuchamt und die Rentenversicherung übernimmt das Vermessungs- und Katasteramt. Auch diese Übermittlung ist für Anwohner und Eigentümer kostenfrei. Bleibt noch das Briefpapier: Ja, das müsste tatsächlich neu gedruckt werden – aber sollte neues Briefpapier wirklich das entscheidende Argument gegen eine Umbenennung sein?
Stimmt, die Kolonialzeit ist ein Teil der deutschen Geschichte, der nicht in Vergessenheit geraten darf. Eine Straßenumbenennung bedeutet jedoch keineswegs ein „Aussteigen aus der Geschichte“, sondern zeigt doch gerade eine kritische Auseinandersetzung mit ihr. Stadtpläne sind keine Geschichtsbücher, in denen die Geschichte eins zu eins abgebildet ist. Heute gibt es keine Straßen mehr, die nach führenden Nationalsozialisten benannt sind – das bedeutet aber nicht, dass man damit die NS-Geschichte ausradiert. Wie Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe im Zusammenhang mit der Umbenennung des Hindenburgplatzes in Schlossplatz richtig sagte, darf jede Generation neu darüber entscheiden, wen sie mit der Benennung von Straßen und Plätzen ehren will – und wen nicht. Die – dringend gebotene – Auseinandersetzung mit deutschem Kolonialismus sollte ihren Platz eher in Schulbüchern und anderen historischen Aufarbeitungen haben. Darüber hinaus muss auch nicht in Vergessenheit geraten, wie Straßen einmal benannt waren. Zum Beispiel könnte dies durch ein Hinweisschild in der jeweiligen Straße geschehen.
Nichts spricht gegen eine differenzierte Betrachtung von historischen Figuren; Geschichtswissenschaft und Publizistik arbeiten dabei auch manche Ambivalenzen heraus. Bei einer Straßenbenennung, mit der eine Person pauschal geehrt wird, handelt es sich jedoch um keinen differenzierten Umgang. Darüber hinaus waren Woermann und Lüderitz auch schon zu Lebzeiten durchaus umstritten. Reichstagsabgeordnete wie August Bebel und Matthias Erzberger übten schon damals heftige Kritik am rücksichtslosen Vorgehen in den deutschen Kolonialgebieten und prangerten zudem an, dass die Profite einzelner Unternehmer wie Woermann und Lüderitz auf Kosten der Allgemeinheit erzielt wurden, etwa indem das Kaiserreich sogenannte Schutztruppen entsendete.
Sicher, es wurden in den deutschen Kolonialgebieten Straßen, Eisenbahnlinien und Häuser gebaut, die es zum Teil heute noch gibt. Doch zum einen haben die einheimischen Bevölkerungen nicht darum gebeten und wurden stattdessen gewaltsam aus ihren Lebenszusammenhängen gerissen. Zum anderen sollte die Errichtung von Infrastruktur nicht den Menschen dienen, sondern der effizienten Ausbeutung von Land und Bevölkerung. Die wissenschaftliche Forschung zieht heute eine kritische Bilanz: Demnach war die Etablierung von Kolonien weder für die „Entwicklung“ der afrikanischen Länder und Völker noch für die wirtschaftliche Ausbeute des Landes, von dem die kolonialen Bestrebungen ausgingen, von Vorteil. Stattdessen bedeutete sie für das Deutsche Reich, das die Geschäfte in den Kolonien mit Militär absichern musste, ein „Verlustgeschäft“. Profitiert haben ausschließlich private Unternehmer wie Lüderitz und Woermann, wobei für Verluste die Allgemeinheit aufkommen musste.
Es ist richtig, dass das Deutsche Reich eine Kolonialmacht unten vielen war. Und tatsächlich waren etwa das französische oder englische Kolonialreich größer und von längerer Dauer. Die Legende von der guten Kolonialmacht, die im Gegensatz zu anderen immer anständig geblieben ist, hielt sich noch weit in die Zeit der Bundesrepublik Deutschland hinein und ist teilweise heute noch immer verbreitet. Gerechtfertigt war und ist sie nicht. Beispiele für verbrecherische Praktiken waren etwa sogenannte Strafexpeditionen in Regionen, die sich nicht der Kolonialmacht unterordnen wollten, wobei ganze Dörfer zerstört, Felder verwüstet und die dort lebenden Menschen getötet oder gefangen wurden. Über einen in Kamerun tätigen Leutnant heißt es: „… Dominik ließ sich gerne die abgeschlagenen Köpfe von Aufständischen zu Füßen legen, er befahl Gefangenen die Geschlechtsteile abzuschneiden und Kinder zu ersäufen“ (Grill, S. 133/134). Dieses menschenverachtende Verhalten führte bis hin zum Völkermord an den Herero und Nama 1904 bis 1908 im heutigen Namibia.
Tatsächlich gibt es in Namibia einen Ort namens Lüderitz. Er bekam seinen Namen jedoch nicht, weil die namibische Bevölkerung das Andenken ihres einstigen Eroberers ehren will. Stattdessen benannten die deutschen Kolonisatoren das Land nach Lüderitz (damals Lüderitzbucht), der es einst mit betrügerischen Mitteln erworben hatte. In der Gegenwart gibt es durchaus Bemühungen, den Namen der Stadt zu ändern. So wurde bereits 2013 der Wahlkreis, in dem Lüderitz liegt, in !Nami¿nûs umbenannt. Entsprechende Versuche, auch eine Umbenennung der Stadt durchzusetzen, scheiterten bislang. Der größte Widerstand gegen eine Umbenennung kommt dabei von der deutschstämmigen Bevölkerungsgruppe, also den Nachfahren ehemaliger Kolonisatoren, die aufgrund ererbten Landbesitzes nach wie vor wirtschaftliche Macht in Namibia haben. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache, dass nicht alle namibischen Bevölkerungsgruppen Opfer des damaligen Kolonialregimes waren und deswegen heute womöglich auch kein großes Interesse an einer geschichtspolitischen Aufarbeitung haben. Dagegen bilden dejenigen Bevölkerungsgruppen, wie die Herero und Nama, die besonders unter der Kolonisierung gelitten haben und durch den Genozid zwischen 1904 und 1908 stark dezimiert wurden, heute Minderheiten in der namibischen Gesellschaft, mit entsprechend eingeschränkten Möglichkeiten zur Mitsprache.
Viele Menschen verbinden mit dem Namen ihrer Straße mehr als das, was auf dem Straßenschild steht. Es geht um private Erinnerungen, um Heimat, Identität. Deswegen sorgen Umbenennungen oft für Unbehagen und womöglich für ein Gefühl des Verlustes. Derartige Abwehrreaktionen sollten jedoch nicht dazu führen, dass Straßen überhaupt nicht mehr umbenannt werden dürfen. Bei dem Wunsch, den Woermannweg und den Lüderitzweg umzubenennen, geht es nicht darum, einfach mal was Neues zu wagen oder mit der Mode der Zeit zu gehen. Sondern es gibt – auf der Grundlage von demokratischen und menschenfreundlichen Werten – zwingende Gründe dafür, die bestehenden Namen nicht weiter zu verwenden und die jeweiligen Personen damit nicht mehr zu ehren. Die beiden Straßen hießen beinahe 84 Jahre lang so. Heute wissen wir, dass sie aus falschen Gründen ihren Namen erhalten haben. Wenn wir uns heute für neue Namen entscheiden, werden diese auch in 100 Jahren noch Bestand haben und den Menschen Orientierung bieten.

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