Alltag in der JVA

25.11.2014
An dieser Stelle möchten wir möchten  auf den Beitrag des NDR
mit dem Titel: „Knastkarriere“ im Jugendgefängnis aufmerksam machen.
Alexander Milic

04. September 2013
Der Tagesspiegel Berlin berichtet:
Berlins Justizsenator Heilmann offen für offenen Vollzug

Jurastudium hinter Gittern: 70 Studenten haben sich für ein einmaliges Uni-Projekt freiwillig einsperren lassen. WDR.de sprach mit Teilnehmer Philipp Schulte aus Münster über einsame Mahlzeiten, Platzangst und den Blick auf verschlossene Türen. 

Der folgende Beitrag zeigt den Alltag in den Jugendjustizvollzugsanstalten in NRW.

Alltag in der Jugendstrafanstalt

Wie die Zelle eingerichtet wird, ist festgeschrieben und überall im Gefängnis gleich. Aus Sicherheitsgründen. Zelle Nummer 221, erster Stock, Haus 2, „Mord- und Totschlagsstation“ in der Jugendstrafanstalt ist neun Quadratmeter groß: grauer Bodenbelag, an der Wand ein Bett, darauf eine Decke mit der Aufschrift „Land Berlin“, gegenüber ein Tisch, daneben ein Schrank aus Kunstholz. […]
Über Daniel Koch* sagen die anderen Häftlinge, er habe aus der Zelle eine „Kuschelhöhle“ gemacht. Koch ist 21 und seit drei Jahren in Plötzensee. […]
Jeden Tag um sechs wird Daniel Koch geweckt, um sieben geht er zur Arbeit, er macht in der Anstalt eine Tischlerlehre. Gegen 15 Uhr kehrt er zurück, meist bleiben die Zellentüren nur noch ein, zwei Stunden geöffnet. Ab 16 oder 17 Uhr ist er dann allein in Zelle 221, Stunden des Nichtstuns, in der die Konjunktive in seinem Kopf lärmen, Gedanken daran, wie das Leben ohne sein Verbrechen hätte aussehen können. […]
Nicht weit entfernt von Zelle 221 im Verwaltungsgebäude der Haftanstalt sitzt Marius Fiedler hinter einem überdimensionierten Schreibtisch. Seit 19 Jahren leitet er das Gefängnis Plötzensee, regiert eine kleine Stadt mit Werkstätten, Zellen, Sportplatz und momentan 485 Gefangenen, die in drei Schichten von 300 Vollzugsbeamten bewacht werden. […]
Marius Fiedler ist jetzt 61, er kann sich noch erinnern, dass, als er in Tegel anfing, der Erziehungsgedanke im Jugendstrafvollzug im Vordergrund stand. Wenn er jetzt bei Treffen mit anderen Gefängnisdirektoren über „Erziehung“ redet, verdrehen die meist nur die Augen. „Das Sicherheitsbedürfnis ist größer geworden, und das Verhältnis der Öffentlichkeit zu den Straftätern hat sich verändert. Früher wurden sie noch als Bestandteil der Gesellschaft angesehen, die resozialisiert und integriert werden sollten. Heute ist der Straftäter der Feind, der bekämpft werden muss.“ […]
Die Statistiken zeigen, dass die Jugendkriminalität nicht gestiegen ist, aber die Körperverletzungsdelikte jugendlicher Täter zugenommen haben. Die meisten Kriminologen sind der Meinung, das liege daran, dass diese Taten öfter angezeigt würden. Kaum etwas hat in den vergangenen Jahren die deutsche Öffentlichkeit mehr erregt als der Umgang mit jungen Gewalttätern. In einer Zeit, in der große Banken ihr Geld verspielen und angesehene Firmen untergehen, in der nichts mehr gewiss zu sein scheint, bildet die scharfe Verurteilung von Kriminellen eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den man sich noch einigen kann. Je verunsicherter der Einzelne, desto größer das allgemeine Verlangen nach Sicherheit. […]
Marius Fiedler sitzt in seinem Büro und sammelt Argumente, damit „die Wirklichkeit wahrgenommen wird“. […] Aber die Auseinandersetzungen sind heftiger geworden. Da ist zum Beispiel Fiedlers Gegner Hans-Jörg Albrecht, der Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. Albrecht meint, dass die meisten Häftlinge im Jugendstrafvollzug über 18 seien und nicht mehr erzogen werden wollten. Albrecht fordert, das Erziehungsziel im Jugendstrafrecht aufzugeben. Fiedler antwortet ihm mit Kant: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“ […]
Koch ist im Süden von Berlin aufgewachsen, in einer Neubausiedlung. Seine Welt bekam einen Riss, als sich seine Eltern trennten. Daniel Koch war damals in der neunten Klasse. Zur Schule ging er nur noch selten, er schlief jeden Tag bis zehn, rauchte Haschisch, nahm auf der Straße anderen Jugendlichen ihre Schuhe oder Handys ab. […] Er selbst wurde auch überfallen, einmal musste er auf Socken nach Hause laufen. Danach kaufte er sich ein Messer. […] Nie mehr Opfer sein. „Opfer“ ist eines von Kochs liebsten Worten, er benutzt es oft, immer klingt es nach Schwäche. […]
An die Tat, die ihn in Zelle 221 führte, kann sich Koch nur schemenhaft erinnern: Ein Dezemberabend 2005, er stieg zusammen mit Freunden in einen Bus. Er war damals 18. Einer seiner Freunde begann einen Streit mit einem Mädchen. Koch hatte getrunken und Ecstasy genommen. Der Freund des Mädchens mischte sich ein. Daniel Koch fühlte sich „unter Druck“, seinem Freund zu helfen. Er zog sein Messer und stach zu. Dann flüchtete er aus dem Bus. […]
Die Akte des Insassen Daniel Koch liegt bei Jörg Abram, dem Psychologen und Leiter der Wohngruppe von Haus 2, im Schrank. […] Abrams Büro ist nur zwei Türen von Zelle 221 entfernt. Abram nennt sie einen der „privilegierten Hafträume“. Dort sitzen meist ältere Häftlinge, die keine Drogen nehmen, nicht illegal telefonieren, eine Ausbildung machen oder zur Schule gehen. [….] „Für viele Gefangene ist die Zelle das erste eigene Zimmer ihres Lebens. Sie ist ein ganz intimer Raum“, sagt Abram. […] Abram hat beobachtet, dass viele, auch wenn die Türen offen stehen, ihre Zelle nicht verlassen, weil sie nicht wissen, was sie draußen mit sich anfangen sollen. Jörg Abram ist 57, seit 27 Jahren arbeitet er als Psychologe in der Jugendstrafanstalt. Er ist ein wichtiger Mann in Plötzensee, das Tor zur Freiheit. Abram schreibt Einschätzungen, entscheidet mit darüber, ob ein Gefangener Hafterleichterung bekommt oder nicht. […]
Er blättert in einem Hefter auf seinem Schreibtisch und zählt auf: Russlanddeutsche, Kosovo-Albaner, Libanesen, Palästinenser, Türken, Polen, Angolaner und Deutsche leben in seiner Wohngruppe. In Plötzensee sind 70 Prozent der Gefangenen nichtdeutscher Herkunft – im westdeutschen Durchschnitt sind es rund 50 Prozent. Abram sieht dafür vor allem soziale Gründe. […]
Es klingt wie ein Klischee, aber die meisten Studien zu diesem Thema kommen zum selben Schluss: „Kriminalität steht fast immer im Zusammenhang mit Armut, und davon sind Migranten mehr betroffen.“ Viele Häftlinge haben die Schule nur selten besucht. „Wir haben hier keine Abiturienten, sondern viele, die als Analphabeten aus der Hauptschule kommen“, sagt Abram und fügt hinzu, „das Problem sind auch die schwachen Väter.“ Entweder seien sie gar nicht da oder kümmerten sich nicht um die Erziehung. Und Väter, die autoritäre Familienstrukturen gewohnt seien, fühlten sich oft durch die Emanzipation der Frauen verunsichert, sähen ihre Rolle in der Familie in Gefahr. Sie reagierten mit Schlägen, um sich Autorität zu verschaffen. Sie werden von ihren Söhnen nicht als Vorbilder erlebt, sondern als Verlierer.
Manchmal sieht Jörg Abram auch die Erfolge der Haft, wenn die Gefangenen „drinnen“ eine Lehre oder die Schule abschließen, was sie „draußen“ nie durchgehalten hätten. „Ich verlange von den Häftlingen, dass sie einen Plan machen, wie sie ihr Leben ordnen wollen“, sagt er. […]
Wie die Häftlinge teilt auch Jörg Abram die Welt in „drinnen“ und „draußen“. Draußen, in seinem Privatleben, spricht er nicht über das Gefängnis. Wenn ihm auf der Straße ein ehemaliger Insasse begegnet, wartet er, bis der ihn zuerst grüßt. Manche rufen ihn Jahre später an, aber nur, wenn sie etwas Schönes zu erzählen, wenn sie etwas erreicht haben. […]*Name des Häftlings geändertJana Simon, „Die Jungs aus Zelle 221“ in Die Zeit Nr. 17 vom 16. April 2009