Gelenkig muss man sein
Hildegard Schulte
Tante Friedchen staunt. Als Kind hat sie gern Sport gemacht, besonders Bodenturnen und Gymnastik. Ehrgeizig trainierte sie den Spagat, bei dem die Beine so weit gespreizt werden mussten, dass sie eine Gerade bildeten. Es war eine „Quälerei“, und so richtig beherrscht hat sie die Übung nie. Ganz anders scheint das in der heutigen Zeit zu sein. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen heute den Spagat beherrschen. Im Duden findet Tante Friedchen den Spagatprofessor. „Das ist ein Professor“, so die Erklärung, „dessen Universitäts- und Wohnort weit auseinander liegen.“ Unter dieser Beschreibung eines verbalen Spagats, bei dem jemand zwei gegensätzliche Positionen oder Ansichten zu überbrücken versucht, kann sich Tante Friedchen noch etwas vorstellen. Wenn sie allerdings die Zeitung liest, stößt sie auf überraschende Spagatleistungen.
Da ist eine bekannte Modekette, die einen anspruchsvollen und notwendigen Spagat macht, weil sie ihr Sortiment mit topmodischen Akzenten gezielt verjüngen und dennoch auch die langjährigen, reifen Kundinnen an sich binden will. Eine Politikerin darf vorhandene Wähler nicht verprellen, wildert aber auch in den Teichen der politischen Konkurrenz. Das wird bei aller inhaltlichen Beweglichkeit als ein gefährlicher Spagat angesehen. Auch die Grünen in Berlin zeigen sich sportlich. Sie üben Spagat zur neuen Mitte. Anders dagegen verhält sich der Außenminister in China. Er macht einen Spagat mit Fingerspitzengefühl. Ganz schlimm sieht es für den gesamten Staat aus. Bei der Diskussion über die Gerechtigkeit wird auch er durch immer extremere Vorschläge und absurde Ideen in den Spagat gezwungen.
Unser Fußballbundestrainer, der, wie die gesamte Fußballmannschaft, ein Vorbild für sportliche Tüchtigkeit ist, scheint hier auch noch Nachholbedarf zu haben. Er erklärt nämlich: „Wir müssen in den Wochen bis zur Weltmeisterschaft einen Spagat schaffen.“ Dabei bleibt unklar, zwischen welchen gegensätzlichen Positionen er ihn ausführen will.
In einem Interview spricht ein Politiker darüber, wie er einen Spagat zwischen vier Parteien erreichen will. Spätestens jetzt rätselt Tante Friedchen, wie das möglich ist. Schließlich hat der Mensch doch nur zwei Beine.