Schneeflocken
Kristalle des Winters
Aiga Kraß
An einem Tag im Spätherbst begleitete der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646-1716) eine bayrische Prinzessin auf ihrem Spaziergang durch den Park ihres Schlosses. Der Philosoph erklärte seiner Begleiterin, dass alle Dinge in der Welt sich voneinander unterscheiden müssten. Wenn nämlich ein Gegenstand existiere, so gäbe es keinen ausreichenden Grund dafür, dass ein zweiter vorhanden wäre, der dem ersten vollkommen gleiche. Ein Höfling des Gefolges bezweifelte diese These und er begann, in dem Laub, das schon in Mengen auf den Wegen lag, zwei Blätter zu suchen, die völlig gleich wären. Soviel er auch sammelte und miteinander verglich, er fand kein völlig identisches Paar. Der Philosoph sah sich bestätigt; und da in der Luft schon der nahende Winter zu spüren war, kam er auf Schneeflocken zu sprechen, die milliardenfach vom Himmel fallen würden, ohne dass auch nur eine von ihnen einer anderen gleiche.
Schneeflocken sind von alters her von einem Zauber umgeben, weil sie aus fernen Gefilden so leise und schwerelos zur Erde schweben. Im Kinderlied „decken sie die Blümlein zu, so dass sie schlafen in himmlischer Ruh“. Jahr für Jahr werden die Schneeflocken herbeigesehnt für eine weiße Weihnacht.
Was aber ist eine Schneeflocke? Ein Farmer in Vermont/USA namens Wilson Bentley interessierte sich Ende des 19. Jahrhunderts für die mikroskopische Struktur einer Schneeflocke. Bei seinen Überlegungen kam er auf die Idee, das damals neue Medium der Fotografie zu nutzen. Er erfand eine geniale Konstruktion, in der er eine Kamera mit einem Mikroskop verband. Im Jahr 1885 gelang ihm die erste Fotografie eines Schneekristalls. Im Laufe seines Lebens bannte Bentley über 5000 Bilder von Schneekristallen auf Platten und verschaffte damit zum ersten Mal einen Einblick in die Feinstruktur, die Symmetrie und unglaubliche Formenvielfalt von Schneekristallen.
Der Beginn einer Schneeflocke ist ein winziger Eiskern, der sich in einer Wolke je nach Luftfeuchtigkeit und Temperatur in großer Geschwindigkeit zu einem Kristall entwickelt. Er wird größer und nimmt an Gewicht zu, bis er schließlich so schwer ist, dass er durch die Wolken langsam nach unten schwebt. Welche Form eine Schneeflocke dabei annimmt, bestimmt
ihr Weg, auf dem sie unterschiedlichen Luftströmungen und Feuchtigkeitsgraden ausgesetzt ist. Weil aber nie zwei Kristalle exakt denselben Weg nach unten nehmen, werden nie zwei von ihnen identisch aussehen, was so den enormen Formenreichtum von Schneeflocken hervorbringt.
Ein Kristall besteht aus Eis, aber Eis alleine bildet keine Schneeflocke. Man kann noch so viele Eiswürfel in der Tiefkühltruhe erzeugen, aber nicht einer würde auch nur entfernt an einen prächtigen Schneestern erinnern. Dazu bedarf es den langen Weg durch die Atmosphäre.
Wenn jetzt im nahenden Winter der Schnee „leise zur Erde rieselt“, wie es im Lied heißt, dann wollen wir die unendliche Vielfalt der Flocken bestaunen, von denen jede ein einmaliges, filigranes Wunderwerk darstellt.