08. Mai 2010
8. Mai 2010
65. Jahrestag der Befreiung
vom Nationalsozialismus
Gedenkveranstaltung zum
Jahrestag der Befreiung von Krieg und Faschismus
Rede der Emanzipatorischen Aktion
Münster - Lotta
antifascista
Sehr
geehrte Damen und Herren,
liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten
der Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus, den wir hier
und heute begehen, hat seit jeher eine dreifache Bedeutung: Erstens
ist er der Tag der Befreiung (Betonung) vom NS und darum ein Anlass
zum Gedenken in großer Freude. Zweitens ist er der Tag der
Befreiung vom Nationalsozialismus (Betonung) und darum ein Anlass
zum Gedenken in großer Trauer an die Abermillionen Opfer
nationalsozialistischer Weltsicht. Und weil uns, die wir heute hier
sind, der Wunsch eint, dass so etwas wie der Nationalsozialismus
sich nicht wiederholen soll, ist er - drittens - Anlass zur
kritischen Betrachtung der Gegenwart: Was tun wir, was tut sich in
der bundesdeutschen Gesellschaft, was tut sich in Europa dafür das
Auschwitz nicht noch einmal sei?
Es sind besonders häufig Jahrestage wie dieser - und es wird
auch heute wieder so sein - das in vielen offiziellen
gedenkpolitischen Lippenbekenntnissen die historische Verantwortung
für die Verbrechen Nazideutschlands und die Läuterung der Berliner
Republik immer wieder betont wird - man beteuert, aus der
nationalsozialistischen Vergangenheit gelernt zu haben.
Doch was heißt schon "gelernt"? Heißt
"gelernt", wenn in den Schulen der historische
Nationalsozialismus auf den Lehrplänen steht? Wenn Filme wie
"Schindlers Liste" hoch gelobt werden und Preise erhalten?
Wenn neo-nationalsozialistische Organisationen vom sogenannten
"Verfassungsschutz" beobachtet und in regelmäßigen
Abständen Thema ausführlicher Pro-und-Contra-Verbotsdikussionen
sind?
Es lässt sich mit berechtigten Argumenten über die Bedeutung
jedes dieser Punkte streiten. Doch das ist hier und heute nicht
unser Punkt. Die Frage, die wir uns stellen, ist vielmehr: Ist der
historischen Verantwortung für die Verbrechen des
Nationalsozialismus schon genüge getan, wenn wir sie in die eng
umgrenzten Reservate der Gedenktage, der Bildungsinstitutionen, der
Medien, der Bekämpfung des neuen Naziorganisationen pferchen? Wenn
sich "historische Verantwortung" auf die noch so intensive
Beschäftigung mit dem historischen Nationalsozialismus und
Faschismus einerseits, die symbolische und tatsächliche Bekämpfung
des organisierten, bekennenden Neo-Nationalsozialismus andererseits
beschränkt? So wichtig natürlich die Auseinandersetzung mit dem
historischen wie aktuellen Nationalsozialismus ist - sie allein kann
nicht ausreichend sein. Historische Verantwortung auf eng umgrenzte
Reservate zu beschränken, ist eine Abschiebung der Lernaufgabe -
Was haben wir aus der Vergangenheit gelernt, was sind wir überhaupt
bereit, aus ihr zu lernen - und in welcher Gesellschaft wollen wir
überhaupt zukünftig leben? - weg vom brisanteren Hier und Jetzt in
das bequemere Dort und Damals.
Doch statt beispielsweise Antifaschismus zu einer
Querschnittsaufgabe aller politischen Ressorts - der Jugendarbeit,
der Stadtplanung, der Finanzen,(...) - zu machen, entscheidet man
sich in der Regel dafür, Antifaschismus als zahnloses
Streichelzoo-Maskottchen zu halten: Hier und da ein Gedenktag, hier
und da ein paar Bücher für die Stadtbüchereien oder ein paar
Stolpersteine - die sind so schön billig - und wenn ein
Naziaufmarsch droht, zeigen wir Gesicht - möglichst symbolträchtig
und möglichst außer Sichtweite derer, die wir kritisieren.
"Politisch verfolgte genießen Asylrecht" - auch dies
galt einmal als ein Zeichen historischer Verantwortung, das man
nicht ohne Grund im Grundgesetz dieser Republik verankerte. Doch mit
den Steinen, die beim Einriß der innerdeutschen Mauer vor 20 Jahren
übrigblieben, erhöhte man die Mauer rund um die Festung Europa
gegen die Flüchtlinge dieser Welt. Der relativ liberale Umgang mit
politisch verfolgten Flüchtlingen, verstanden auch als eine
Konsequenz aus den Verbrechen des Nationalsozialismus, wich einem
gemeinsamen europäischen Projekt: Der De-facto-Abschaffung eines
historisch verantwortungsbewußten Asylrechts. Das Geld wurde und
wird dringender benötigt für die Torpedierung einer weiteren
Konsequenz aus dem Nationalsozialismus: Den Aufbau einer deutschen
ebenso wie einer europäischen Angriffsarmee, die für deutsche und
europäische Interessen weltweit Kriege führen kann und soll.
Eine neue Dimension dieser zweifachen Entwicklung aus
De-facto-Entsorgung historischer Verantwortung einerseits, ihre
Abschiebung in politische Reservate andererseits können wir bei dem
aktuellen Versuch erleben, mehr als 10.000 bürgerkriegsflüchtige
Roma aus Deutschland in die Region Kosovo im Rahmen eines
Vier-Jahres-Plans abzuschieben.
Hunderttausende Roma, Sinti und Jenische wurden im Dritten Reich
Opfer industriell organisierter, nationalsozialistischer
Vernichtungsideologie – weil sie selbsternannten, so genannten „Herrenmenschen“
als „nicht lebenswert“, als „fremdrassige Untermenschen“
galten.
Im ganzen besetzten Europa suchten und fanden die Nazis Sinti,
Jenisch und Roma. Die, die nicht sofort umgebracht wurden, sperrten
die Nazis in Konzentrationslager, zwangen sie zu Sklavenarbeiten.
Unter katastrophalen hygienischen Bedingungen zusammengepfercht,
nicht einmal mit dem notwendigsten an Lebensmitteln versorgt – so
breiteten sich in den Lagern Krankheiten, Unter- und
Mangelernährung aus, die viele Todesopfer verlangten. Auf
grausamste Art und Weise wurden Sinti, Jenisch und Roma von der SS
als menschliche Versuchskaninchen für rassenbiologische Experimente
benutzt: Sie wurden verstümmelt, vergiftet, gefoltert, gequält. In
Vernichtungslagern wie dem so genannten „Zigeunerlager“ von
Auschwitz-Birkenau wurden die Roma schließlich massenhaft wie am
Fließband ermordet: Tag und Nacht, jede Stunde, jede Minute.
Und heute? Tausende Roma und andere Menschen, die einst vor
rassistischen Pogromen in der Hoffnung auf Schutz nach Deutschland
geflohen sind, sollen nun erneut in die akute Gefahr rassistischer
Pogrome abgeschoben werden oder wurden dies sogar bereits –
sehenden Auges und ohne das ein Hauch von tatsächlichem
historischem Verantwortungsbewußtsein sichtbar wäre. Den einst
durch NATO und Bundeswehr mitgeschaffenen Flüchtlingsströmen wurde
nie eine Chance auf Asyl gewährt – von Anfang an waren Roma- und
andere Bürgerkriegsflüchtlinge im kriegführenden Deutschland nur
geduldet und juristisch von der Möglichkeit auf Asyl
ausgeschlossen.
Das man sich inzwischen wieder traut, so unverschämt,
offensichtlich, massiv und massenhaft gegen Nachkommen von den
Menschen vorzugehen, gegen die erhebliche Teile deutscher
Täterinnen- und Tätergenerationen mit dem Willen zur totalen
Vernichtung angetreten waren, zu einem Zeitpunkt, wo gerade soeben
die letzten Täterinnen und Täter dabei sind, zu versterben - das
ist eine so unglaubliche Frechheit, das einem darüber der Atem
stocken kann.
Mit Datum vom 16. Februar 2010 teilt das Bundesministerium des
Innern den Innenministerien der Länder, dem Auswärtigen Amt und
den zentralen Abschiebebehörden mit, das derzeit zu viele
Abschiebungen in den Kosovo angemeldet und durchgeführt würden und
fordert die strenge "Beachtung und konsequente Einhaltung"
der Zusagen, die man den kosovarischen Behörden bezüglich der
Abschiebung der Roma und anderen Minderheiten in den Kosovo gemacht
hat. Dies wird nicht deshalb vom Bundesministerium des Innern
gefordert, weil sehr viele der abgeschobenen Roma im Kosovo bittere
Armut, eine nahezu 100%ige Arbeitslosenquote, ein Leben auf
Müllkippen oder mit Chemikalien verseuchten Böden in Baracken ohne
fließendes Wasser oder Heizung erwartet. Oder weil vielen Roma
wegen fehlender Papiere oder restriktiver Gesetze der Zugang zu
Gesundheitsversorgung, Schulbildung der Kinder und Sozialleistungen
im Falle von Krankheit oder Arbeitslosigkeit verweigert wird. Auch,
das Roma dort nach wie vor permanent als „Zigeuner“
diskriminiert und immer wieder rassistischen Angriffen und
Beleidigungen ausgesetzt sind, nennt das Bundesinnenministerium
nicht als Grund. Nein - die konsequente Einhaltung der gemachten
Zusagen ist "für die Außenwahrnehmung Deutschlands durch die
Republik Kosovo, aber auch vor dem derzeitigen Hintergrund der
derzeitigen politischen und medialen Fokussierung auf das Thema
`Rückführung Kosovo´ (...) von besonderer Bedeutung". Im
Klartext: Die Innenministerien der Länder drücken auf das
Abschiebe-Gaspedal und das Innenministerium des Bundes will das
formaljuristische Feigenblatt wahren, weil das politische und
mediale Interesse im Moment zu groß ist. Hauptsache, alles läuft
schön nach Recht und Gesetz. Könnte ja sonst jemand auf den
Gedanken kommen, die junge Republik Kosovo solle als zügiger
Abschiebe-Mülleimer für Roma und andere Minderheiten fungieren.
Bisher sind allein für dieses Jahr 8 weitere, sogenannte
"Rückführungsabkommen" zwischen dem Kosovo und
verschiedenen europäischen Staaten geplant. Da mögen Amnesty
International, Pro Asyl, UNICEF, das UN-Flüchtlingshochkommissariat
(UNHCR), diverse gewerkschaftlichen und kirchliche Organisationen
und wer weiß wer noch informieren, aufklären, warnen - die
Europäische Union scheint sich wieder weitgehend einig in ihrer
Botschaft: Roma gehören weg - wenn möglich, irgendwo nach Osten.
Aktuell soll beispielsweise in Wettringen/Kreis Steinfurt eine
17jährige in den Kosovo abgeschoben werden, weil sie nach Ansicht
der lokalen Behörden nicht integrationswillig sei - sie hatte die
Schule geschwänzt. Auch die 55jährige schwer herzkranke Mutter von
9 Kindern zeigt sich - so die Steinfurter Behörden - nach wie vor
nicht integrationsbereit: Sie geht immer noch keiner Arbeit nach.
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte warnte im letzten Jahr
vor einem Erstarken des Antiziganismus in Europa. Roma seien in
Ungarn "tödlichen Angriffen", in der Slowakei
"schweren Misshandlungen durch die Polizei" und in Italien
"erniedrigender Behandlung" ausgesetzt. In Bulgarien werde
die ethnische Minderheit aus dem Gesundheitssystem und in der
Tschechischen Republik aus dem Bildungssystem ausgeschlossen.
"Gewaltsame Vertreibungen, direkte oder indirekte
Diskriminierung" von Roma gebe es in 17 europäischen Ländern,
darunter Finnland, Frankreich, Schweden und Großbritannien.
Angesichts solcher deutscher und europäischer Zustände krieg
ich persönlich - gelinde gesagt - das kalte Kotzen. An die, die
solches Verhalten fördern, forcieren, unterstützen, heimlich
beklatschen, schweigend abnicken: Euer hohles Gelaber von
angeblichen Lerneffekten aus der Vergangenheit ist pures
Lippenbekenntnis, eure rituellen Beschwörungen historischer
Verantwortung tretet ihr faktisch mit Füßen. Die Wahrheit ist -
ihr habt wirklich gar nichts gelernt, nicht die Bohne.
Antifaschismus ist mehr als gedenkpolitische Sonntagsreden,
Schulunterricht, Gesicht zeigen gegen oder sogar Blockieren von
Nazis. Antifaschismus ist - angelehnt an den Schwur der
Überlebenden des KZ Buchenwald - der Kampf gegen die Wurzeln des
Faschismus für eine Welt, in der universale Menschenrechte wirklich
universell gelten und die Würde aller Menschen tatsächlich
geachtet wird - aus historisch begründeter Sorge und Verantwortung.
Verschärftes Nachsitzen - zumindest zeitweise - unter den
Bedingungen, die ihr anderen mit Eurer Abschiebepolitik zumutet, ist
daher dringend zu empfehlen.
Ich danke für Ihre und Eure Aufmerksamkeit.
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