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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Kreisvereinigung Münster

 

29. September 2004

Celine van der Hoek de Vries in der ESGZeitzeugInnengespräche wider das Vergessen

Auschwitz-Überlebende Celine van der Hoek de Vries zu Gast in Münster

Celine van der Hoek de Vries berichtete auf Einladung des FH-AStA, der ESG und der VVN-BdA Münster über ihr Leben. Sie wuchs als Jüdin in Amsterdam auf, wurde nach der faschistischen Besetzung der Niederlanden von den Deutschen verfolgt, lebte versteckt in Amsterdam und ist schließlich von den Nazis verhaftet und im September 1944 nach Auschwitz deportiert worden. Frau de Vries überlebte - überlebte Zwangsarbeit, Unterernährung und menschenunwürdige Unterbringung. Letztlich entkam sie der systematischen Massenvernichtung.

Die auch heute in Amsterdam lebende de Vries engagiert sich seit Jahren für eine Welt, in der Auschwitz und die Bedingungen, die zu Auschwitz führten, nie wieder möglich werden dürfen. Seit vielen Jahren ist die mittlerweile 84jährige in unzähligen Städten und Schulen in den Niederlanden und in Deutschland unterwegs, um über ihre Erfahrungen zu berichten.

Celines Geschichte

Celine van der Hoek-de Vries in "de Anti Fascist" - Auschwitz Nr. A25236

Der Zug hielt an. Auschwitz. Ende der Reise. Ende meines Lebens. Ich war 24.

Auf der Rampe setzte ich die Brille ab, als wir aus den Viehwaggons herausgeprügelt waren. Sie war beschlagen vom Dampf der Lokomotive. Wir wurden vorausgeprügelt bis ans Ende der Rampe. Mengele stand da und noch welche Lagerärzte. Hier wurde ausgewählt. Entweder noch eine Weile - vorübergehend - weiterleben, entweder gleich ab in die Gaskammern. Für die Arbeit die noch zu erledigen war wurden soviele Leute nicht mehr gebraucht. Es war 1944 und der Krieg war für Deutschland schon längst verloren. Deshalb verurteilte Mengele nur die tüchtigsten Leute zum Leben in Auschwitz. Brillenträger gehörten nun mal nicht zu den tüchtigsten. Aber ich trug ja die Brille nicht. Also wurde ich eingeteilt zu den bislang Lebenden. Was wäre schlimmer?

Wir wurden in das Lager getrieben. Unter das Tor. Im Bogen über dem Tor standen die Worte: "Arbeit macht frei". Wir waren drinnen. Hinter uns schlug die Tür der Falle zu. Alles weitere ist persönliche Erfahrung. Man sollte es gut verstehen; in jedem Lager waren die Verhältnisse unterschiedlich. Jeder machte seine eigenen Erlebnisse. In jedem Lager waren die Wärter unterschiedlich. Jeder Tag war auch unterschiedlich. Die Laune eines jeden SS-ers, gut oder schlecht, konnte über dein Leben entscheiden. Jeder einzelne empfand sein Gefängnislos auch wieder anders.

Nach dem Krieg und nach unserer Rückkehr wurden ganze Auseinandersetzungen geführt über das Thema ob die nackten Leute, ohne jegliche Bekleidung, ja oder nein ein Stück Seife mitbekamen unter die "Dusche". In diesem Lager wurde das gemacht, in jenem nicht. Die Seife wurde den Menschen gegeben um sie von der Dusche zu überzeugen. Man hätte sie auch ohne Seife hereinprügeln können, aber so verlief die Sache glimpflicher.

Wir wurden in Baracken gesteckt. Ich rede hier nur vom Lager Birkenau, eines der Auschwitz-Außenlager. Wir wurden gelagert in Holzkrippen, drei übereinander. Es war ganz üblich, dass 8 bis 10 Personen sich den Platz für drei teilen mussten. Pro Krippe gab es 2 oder 3 Decken. Nur die starksten schliefen unter den Decken. An der Tür zur Baracke stand eine Tafel mit den Worten "Halte dich sauber". Drinnen aber wimmelte es nur so von Wanzen.

Einfach 

Die Tagesordnung war einfach. In aller Frühe mussten wir antreten, um 4 Uhr, zum Appell im Innenhof. In eisiger Kälte, im Schneegestöber, im Regen mussten wir stundenlang strammstehen. Als die Wärter und Offiziere dann endlich in aller Seelenruhe ankamen, wurden die Gefangenen gezählt und abermals gezählt. Manchmal stimmte die Zahl, manchmal stimmte sie nicht. Dann ging es wieder los, morgens und abends. Die Älteren hielten oft nicht durch und kippten um. Roh wurden sie dann verprügelt bis sie ohnmächtig - oder tot - weggetragen wurden. Geschah das des öfteren, hiess das ab zur Gaskammer.

Nach dem Appell wurde das Essen verteilt: ein kleines Stück Brot für den ganzen Tag und manchmal etwas Wurst oder eine Scheibe Harzerkäse. Dann zurück in die Baracke und den weiteren Tag etwas herumlungern.

Manchmal mussten wir Plaggen von einer Stelle zur anderen tragen. Weshalb, das ist mir aus dem Gedächtnis verschwunden. Bestimmt nicht um es uns gemütlicher zu machen, denn auf dem Gelände liefen wir knöcheltief im Dreck. Immer und ewig, von Stunde zu Stunde, lebten wir in Todesangst. Namentlich bei der “Zwischenauswahl”. Dann mussten wir nackt vor den SS-Leuten aufmarschieren und wer zu dürr war verschwand in die Gaskammern. Dreimal erlebte ich selber eine Auswahl. Dreimal kam ich durch.

Die Kräftigsten wurden in die Waffenfabrik geschickt. Ich geriet ins ehemalige Sudetenland. Das Lager nannte sich Kratzau 11. Das war im Dezember 1944. Sie hatten vor das Lager möglichst ganz zu verlagern. Die Rote Armee näherte sich. Mitte Januar 1945 wurde Auschwitz befreit.

Wie war das nur möglich?

Amsterdam 

Lagst du abends in deiner Krippe und konntest vor Hunger, Kälte oder der grässlichen Wanzenplage nicht schlafen, dachtest du über deine Lage nach. Wie konnte es nur sein, dass du in diese Hölle geraten warst? Welch unmenschliche Welt war das?

Freilich, schon vor der Besatzung wussten wir von jüdischen Auswanderern einiges vom Drama, das in Deutschland ablief. Aber das uns dasselbe geschehen würde, nein, dass ahnten wir damals noch nicht. Nach der Besatzung in 1940 kamen die Bedenken erst. Reiche Juden entkamen indem sie nach England und Amerika flohen, für sehr viel Geld; sie kannten sich wohl aus.

Meine Mutter war eine sehr beschäftigte Kauffrau, mit drei Zweigstellen eines Elektrogeschäftes. Ich erhielt eine gute Erziehung und wurde in der Mittelschule ausgebildet. Die Deportierungen hatten noch nicht angefangen, die Maßnahmen gegen die Juden schon. Es wurde mir zum Beispiel nur erlaubt in einer jüdischen Familie zu arbeiten, als Kindermädchen und Hausmädchen. 1942, Mitte Juni, war ich von der Arbeit mit dem Rad unterwegs nach Hause in der Maasstraat (= Straße), als ich Ecke Maastraat und Jekerstraat von einem Polizisten angehalten wurde.

Natürlich erschrak ich: Polizei ... der Judenstern war nur mit einer Sicherheitsnadel am Kleid angesteckt! Ich sah wie meine Mutter und mein Bruder auf einen deutschen Wagen geladen wurden. (Mein Vater war schon lange gestorben.) Es stellte sich heraus meine Mutter habe den Polizisten gebeten mich auf zu fangen - wie sie das angestellt hat weiß ich nicht - sonst wäre ich selbstverständlich auch mitgenommen worden.

Untertauchen

Was war geschehen? Meine Mutter hätte vorgehabt einige Wertsachen aus unserem Haus sicher unter zu bringen bei nicht-jüdischen Freunden. Das war strengstens verboten. Der Polizist gab mir die Adresse eines vorübergehenden Unterschlupfes . Immer wieder musste ich die Adresse wechseln, bis sich jemand verschwatzte und ich gefasst wurde. Später hörte ich meine Mutter und mein Bruder Jacques hätten anfangs 6 Wochen Haft bekommen und dann wurden sie mit den ersten Transporten verschleppt. Meine Mutter jedenfalls nach Auschwitz. Vom Bruder weiß ich nichts genaues. Sie sind aber beide nicht wiedergekommen.

Ich wurde zweimal festgenommen und geriet in die Hölle auf Erden: das "Hollandse Schouwburg" (= Holländische Theater). Zweimal gelang es mir zu entwischen. Wie? Das ist für Euch unwichtig. Für mich schon, aber das sind ganz persönliche Erfahrungen, die keinen Einfluss hatten auf die mathematisch geplante Ausrottung.

Nach einigen Vernehmungstagen, nachdem ich das letztemal "gefasst" wurde in einem Haus am Oosterpark und ein paar Tage in der Haftanstalt an der Weteringschans verbrachte, wurde ich mit der Straßenbahn zum Zentralbahnhof Amsterdam abgeführt. Von da ging es nach Westerbork. Da habe ich vier Monate verbracht.

Zuletzt wurde ich auch auf Transport gestellt, Richtung Auschwitz. Genau weiß ich es nicht mehr, aber die Zugfahrt wird wohl 3 bis 4 Tage gedauert haben, in Viehwaggons. Bei jedem Halt wurde ein Teil unseres Gepäcks von SS-ern weggeholt und ich hatte nur noch einen winzigen Koffer dabei, als wir die Endstation erreichten. Die größeren Koffer waren schon längst alle fort.

Da war ich also im Vernichtungslager. Wir wurden eingetragen. Alles wird von Deutschen gründlich gemacht. In einer langen Reihe vor der "Schreibstube"; wir wurden in Karteikarten eingetragen; um aber Irrtümer zu umgehen wurde unsere Lagernummer in die Arme eintätowiert.

Der letzte Transport 

Ich war im letzten Auschwitz-Transport. Abfahrt am 12. September 1944. Die Leute in den eheren Transporten erhielten die Tätowierung im Unterarm, obendrauf. Die SS-er aber, bei denen Zweifel am Sieg aufkam, änderten im letzten Transport ihre Technik. Wir sollten durchaus eine Nummer tätowiert bekommen, aber an der Innenseite des Unterarmes, in Kleinziffern. Mir ist die Nummer immer noch groß genug!

Unsere Kleider mussten wir ausziehen. Diese gingen als "Liebesgabe" an ausgebombte Deutsche. Wir erhielten Lumpen mit einem roten Farbstreifen auf der Rückseite. Mein "Kleid" war viel zu lang und ich stolperte deshalb immer wieder. Eine Freundin, mit sehr großen Brüsten, bekam ein viel zu enges Kleid, das also auch gleich aufriss wodurch eine ihrer Brüste nackig aus dem Riss heraushing. Kurz: Wie in allen Lagern war die Absicht die Menschenwürde zu vernichten. So konnten auch in den Baracken ganze Kämpfe entstehen um ein Stück Brot, gab es Hass und Eifersucht und Cliquenbildung. Zu dieser gezielten Demütigung gehörte in Birkenau auch das abrasieren der Haare an Kopf und Geschlecht.

Befreit wurden wir von den Russen. Wir waren frei ein und aus zu gehen durch den Stacheldraht. Ich bin viel außerhalb spazieren gegangen und wurde, abgemagert auf 24 Kilo, in der Krankenbaracke aufgenommen. Die Krankenschwestern da sprachen noch voller Bewunderung vom Hitler. Dann kam ich in ein anderes Krankenhaus. Da gab es Amerikaner und später niederländische Beamte, die suchten nach niederländischen Überlebenden, weil das Gebiet bald von der USSR übernommen würde.

Arier 

Mit einem Militärflugzeug kam ich im Flugfeld Eelde an. Die erste Frage der Krankenschwester war: „Möchten Sie Zigaretten oder Schokolade?“ Ich war Nichtraucherin, aber guckte trotzdem hin. Die Zigarettenmarke hieß "Arier"...

Später erlaubte der Arzt mir einen vorsichtigen Spaziergang in der Sonne. Meine Haare waren noch nicht gewachsen und darum trug ich - Eitelkeit der Frau - ein Kopftuch. Als ich dann in Eeldes Straßen lief, wurde mir nachgerufen "Moffenhure".

Einestags sprach ich einen Polizisten an und erzählte von meiner Erfahrung im Dorf. Der Mann leitete das weiter an den Stadtrat und die Folgen waren überraschend. Jedes Haus erhielt Besuch und die Lage wurde geklärt. Während meinen späteren Spaziergängen wurde an jedem Haus an das Fenster geklopft. Ich wurde herein gebeten und bekam soviel Essen wie ich nur vertragen konnte. Aber das war überflüssig, denn inzwischen war ich auf 32 Kilo herangewachsen und ich durfte auch vom Arzt nicht soviel essen.

Ja, dann also ab nach Amsterdam. Die drei Zweigstellen meiner Mutter waren von einem deutschen "Verwalter" übernommen, dem Herrn Zimmermann. Er wohnte in einer Prachtvilla in Zandvoort und da standen vor meinen Augen die teuren Möbel der Mutter. Ich konnte gar nichts wiederbekommen. Nicht er, sondern ich musste belegen, dass es unsere Sachen waren. Zimmermann hatte ganz klar alle Quittungen vernichtet und ich hatte keine Belege.

Da stand ich also da. Hilfe? Ja, das schon. Von "Nationaal Volksherstel" (= staatliche Nachkriegshilfe) erhielt ich für 3 Monate eine Unterstützung groß 80 Gulden pro Monat.

Ab dann aber musste ich sehen wie ich zurechtkam. Aus meiner ganzen Großfamilie - Onkel, Tanten, Vetter - ist nicht ein(e) einzige(r) zurückgekommen. Ich konnte halt Arbeit finden als Kindermädchen, aber das war mir dann doch zu schwer geworden.

Nachspiel 

Redaktion der "Anti-Fascist", Ihr habt mich gebeten über das Lager Auschwitz zu schreiben. Aber auch das Nachspiel gehört dazu. Deswegen habe ich das erwähnt. Damit ist aber die Sache noch nicht erledigt. Ihr seid noch immer im Kampf - wie wir - gegen neuen Faschismus.

1965 gab es eine öffentliche Versammlung des Auschwitz Komitees Niederlande. Anwesend war auch Herr Wim Klinkenberg, Journalist. Schon länger beschäftigte er sich mit dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt/Main. Es waren da keine Belastungszeugen dabei, weil die Richter meinten - das sagten sie jedenfalls - es gäbe sowieso keine Überlebenden.

Der Hauptangeklagter, Dr. Lucas, hatte ja nur Entlastungszeugen. Dem Hof wurde dann erklärt, dass es bestimmt noch welche Überlebenden gab und sehr widerwillig haben die Richter dann klein nachgeben müssen. Eine Freundin und ich wurden als Zeugen vorgeladen. Als ich schon im Flugzeug war, wurde mein Gatte von einem Deutschen angerufen er solle seine Frau gleich zurückkommen lassen, das sei besser, denn sonst ... Der Hörer wurde aufgeschmissen. Mein Gatte hatte natürlich so seinen Kummer. Aber er hat mich nicht angerufen und auch kein Telegramm mir geschickt. Er kannte mich; ich wäre bestimmt nicht umgekehrt. Und wir hätten nur Ärger drum bekommen. Von Einschüchterungen hatte ich die Nase voll.

Der Prozess wurde geführt in einem Vereinslokal (Gallus). Beim Mittagessen saßen da noch mehrere Kriegsverbrecher mit uns im gleichen Saal am Tisch. Sie waren noch nicht verurteilt. Auch im Warteraum für Zeugen saßen wir mit den Entlastungszeugen zusammen (SS-ern und anderem Gesindel). Im Gerichtssaal konnte meine Freundin und Mitzeugin den Dr. Lucas unmittelbar anweisen.

15 Jahre 

Als Fünfzehnjährige arbeitete sie im "Kanadakommando". Sie musste die Kleidung der Leute die vergast wurden sortieren und ihnen den versteckten Schmuck wegnehmen.

Ich kannte den Dr. Lucas auch, weil er in der Lagerstraße von seinen Leuten gegrüßt wurde. Ihr werdet verstehen er hat sich mir nie vorgestellt. Er machte die Auswahlen in den Baracken. Während diesem Gerichtsverfahren gab es eine ganze Menge Schikanen. Gut, meine Nummer im Arm war deutlich tätowiert, aber sie stimmte nicht mit den Nummern die an einem bestimmten Tag vergeben wurden, meinten die Richter. Später mussten sie gestehen sie hätten sich geirrt. Bei der letzten Auswahl in unserer Baracke wählte Lucas etwa 100 Frauen. Wir haben sie nicht wiedergesehen. Lucas erhielt 3 Jahre Haft mit Anrechnung der U-Haft. Schon bald kam er wieder frei und er verübte eine blühende, teure Artzpraxis in Schleswig-Holstein.

Auschwitz 

Man kann es kaum beschreiben. Wir sahen wie die Schornsteine der Öfen rauchten und der Stank von verbranntem Menschenfleisch schlug auf das Lager nieder. Wir schauten zu den Schornsteinen hin, und wussten, wir könnten jeden Augenblick auch angewiesen werden und (*) hopsgehen. Wenn die Zahl der Vergasten von den Öfen nicht mehr geschafft werden konnte, wurden die Leichen auf einen Haufen geschmissen und draußen verbrannt. Nach der Vergasung gab es eine strenge Kontrolle wegen möglichem Gewinn. Goldzähne wurden gezogen, die Vagina und der Anus wurden geprüft nach möglich verstecktem Schmuck.

Celine van der Hoek-de Vries

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(*) hopsgehen = de pijp uitgaan 
pijp = Rohr 
Das traurige Wortspiel der Celine ist leider nicht zu übersetzen. T.P.